Die „Klagsamkeit“ ist kulturell bedingt

Neue Studie: Migranten haben ein anderes Krankheitsverständnis als Deutsche. Sie empfinden Schmerzen „emotionaler“, gehen eher in die Notfallambulanzen der Krankenhäuser, bei psychischen Leiden allerdings erst spät zum Nervenarzt

VON CIGDEM AKYOL

„Mein Bauchnabel sitzt nicht mehr richtig“, solche Sätze hört Atilla Cintosun häufig in seiner Praxis. Aussagen, die für einen deutschen Mediziner kaum einzuordnen sein dürften. Worte, die dem Arzt aus Herne aber vertraut sind. Denn 90 Prozent seiner Patienten sind Türken. Cintosun weiß, die Vorstellung, Organe könnten sich verschieben, ist in türkischen Überlieferungen noch weit verbreitet. Ein Migrationshintergrund kann also zu einem anderen Krankheitsverständnis führen.

So nehmen Migranten die Notfallambulanzen in Krankenhäusern häufiger in Anspruch als deutsche Patienten. Das ist das Ergebnis einer Studie der Gesundheitsforscherin Theda Borde von der Alice-Salomon-Fachhochschule in Berlin, die vom Bundesbildungsministerium und den Krankenkassen gefördert wurde.

Die Erhebung zeigt auch Unterschiede in der „Klagsamkeit“ der Patienten. Migranten nehmen angeblich die Stärke ihrer Schmerzen viel deutlicher wahr. Klagten 6 Prozent der Deutschen über Kopfschmerzen, waren es bei den türkischen Migranten ganze 20 Prozent. „Aber Türken sind nicht wehleidiger“, sagt Cintosun, „sie haben nur eine emotionalere Ausdrucksweise.“ Das sensiblere Schmerzempfinden schlägt sich auch auf die Vergabe von Medikamenten nieder. So werden für Migranten mehr Schmerz und Magenmittel verschrieben als für deutsche Patienten. Aber die Studie weist auch darauf hin, dass Ausländer nicht öfter krank werden, sondern einfach „anders“. Türkische Patienten erkranken durchschnittlich zehn Jahre früher an schweren und chronischen Leiden wie etwa Rheuma oder Diabetes. Menschen aus Zentral- und Ostanatolien haben ein genetisch bedingtes höheres Herzinfarktrisiko.

Als einen Grund dafür nennt Ramazan Salman die Erwerbsbiografien der Migranten. „Vor allem Ausländer der ersten Generation sind körperlich und psychisch viel eher ausgelaugt als Deutsche“, erklärt der Leiter des Ethno-Medizinischen Zentrums in Hannover. „Denn viele begannen ihr Leben in Deutschland als Industriearbeiter.“ Hinzu kämen migrationstypische Belastungen wie Fernweh und Orientierungslosigkeit, so Salman.

Für Salman ist die kulturelle Sensibilität der Mediziner ein entscheidender Faktor bei einer Behandlung. Deswegen beschäftigt das Zentrum einen Dolmetscherdienst und bildet muttersprachliche Gesundheitsreferenten aus, um Präventionsarbeit zu leisten. Kommunikationsprobleme und damit verbundene Fehldiagnosen können so umgangen werden. Ein bundesweites Netzwerk im Zentrum in Hannover vermittelt zudem medizinisches Personal, Sozialarbeiter und Therapeuten.

Sind Ausländer von einer Depression betroffen, wird sie häufig spät oder überhaupt nicht erkannt. Seelisches Leid ohne die richtigen Worte zu schildern ist schwer, weiß Meryam Schouler-Ocak. Des Weiteren seien die Vorbehalte gegen psychische Erkrankungen bei Migranten noch größer als bei den Deutschen, berichtet die Leiterin des Berliner Bündnisses gegen Depressionen und Chefin der Institutsambulanz an der Psychiatrischen Uniklinik der Charité. Viele versuchten ihre Leiden innerhalb der Familie zu bewältigen.

Durch diese Eigenbehandlung nimmt aber die Zahl der ernsthaft depressiv erkrankten Migranten zu, beobachtet Schouler-Ocak. Statistische Erhebungen über psychisch kranke Migranten gibt es keine. Die Tendenz sei steigend, sagt Schouler-Ocak. Sie wünscht sich deshalb mehr therapeutisches Personal mit einem Migrationshintergrund.