„Sie sollen sich fürchten“

Der Pädagoge Bernhard Bueb, ehemaliger Schulleiter des Elite-Internats Salem, fordert in seinem Buch „Lob der Disziplin“ eine Rückkehr zu preußischen Tugenden in der Erziehung – ein Streitgespräch

INTERVIEW MICHAEL AUST

taz: Herr Bueb, Sie nennen Ihr Buch eine „Streitschrift“. Lassen Sie uns streiten …

Bernhard Bueb: Bitte.

Disziplin und Gehorsam sind Begriffe aus der preußischen Pädagogikmottenkiste, mit denen man Karzer und Rohrstock assoziiert. Kein Erzieher wünscht sie sich heute zurück.

Dem widerspreche ich. Die Wirkung, die dieses Buch schon erzeugt hat, zeigt, dass das Thema den Nerv der Zeit trifft. Die Menschen merken, wir brauchen eine Kehrtwendung in der Erziehung. Im Übrigen fühle ich mich als Missionar. Ich habe das Buch nicht geschrieben, weil ich eine hohe Auflage will, sondern weil ich eine Botschaft habe.

Was ist denn Ihre Botschaft?

Das Leiden der Eltern, Lehrer und Erzieher besteht darin, dass sie täglich einen Großteil ihrer Zeit damit beschäftigt sind, ein Minimum an Ordnung, Manieren und Verlässlichkeit bei den Kindern zu erwirken. Dieses Leiden kann man nur durch Disziplin beenden. Meine Botschaft ist: Disziplin und Autorität sind gute deutsche Worte, die man wieder selbstverständlich verwenden sollte.

Woher rührt denn das Leiden, das Sie beschreiben?

Das ist der lange Atem Hitlers. Es gibt in meinen Augen keinen Bereich, der noch so beschädigt ist durch den Nationalsozialismus wie der pädagogische. Im Dritten Reich wurden Autorität, Gehorsam und Disziplin überbetont, Disziplin wurde zum Selbstzweck und diente einer unmenschlichen Idee …

was nicht unbedingt für eine Rückkehr der Disziplin spricht.

Aber Disziplin ist zunächst neutral! Sie bekommt ihren Wert dadurch, dass sie dem Guten oder dem Bösen dient. Dass sie dem Bösen gedient hat, hat sie so beschädigt, dass wir plötzlich alles verurteilt haben, was mit ihr zu tun hatte. Deutschland ist das einzige Volk, das dem kollektiven Irrtum erlegen ist, dass man ohne Disziplin erziehen könne. Dieser Irrtum sollte allmählich beendet werden.

Einspruch: Durch zu viel Disziplin schränkt man den Freiraum ein, in dem ein Kind seine Kreativität entfalten kann.

Dem widerspreche ich, weil ich glaube, dass Freiheit Reife braucht. Freiheit verwechseln viele mit Unabhängigkeit. Freiheit heißt aber, sich selbst ein Ziel setzen können, und das bedarf Reife. Ich erziehe ein Kind nicht dadurch zur Reife, dass ich ihm früh Unabhängigkeit gewähre. Das ist einer der folgenreichsten Irrtümer unseres Erziehungssystems.

Sie sagen: Wer Disziplin will, muss strafen können …

… weil wir Menschen nun mal so geartet sind, dass wir Folgen fürchten müssen, wenn wir uns nicht wohlverhalten. Es ist ein Missverständnis der letzten Jahrzehnte, dass man auf Strafe verzichten könnte, wenn man erziehen will.

Warum fällt das Strafen denn Ihrer Meinung nach heutigen Erziehern so schwer?

Weil sie durch unsere Geschichte immer Angst haben, dass Härte und Strenge an die Unmenschlichkeit, den Faschismus erinnern könnten. Ich behaupte aus Erfahrung, dass Jugendliche lieber eine strenge als eine lasche Erziehung haben wollen – wenn sie von Fürsorge und Liebe getragen wird. Wir Erwachsenen haben oft Angst davor, dass uns die Kinder nicht mehr lieben, wenn wir zu streng sind. Das Gegenteil ist der Fall. Kinder akzeptieren viel mehr Strenge, als die Erwachsenen glauben ihnen zumuten zu können.

Strafen erzeugen Angst. Wollen Sie, dass Kinder mit Angst aufwachsen?

Strafen erzeugen keine Angst, wenn sie vorher klar geregelt sind und aus Fürsorge verhängt werden. Dann erzeugen sie Furcht, und Furcht ist eine positive Eigenschaft. Sie ist immer konkret, während Angst etwas Diffuses ist und deswegen so gefährlich. Liebesentzug etwa ist unkonkret – und deshalb eine der fürchterlichsten Gemeinheiten, die Erwachsene verhängen können. Wenn Kinder aber ganz konkret wissen: Wenn ich rauche, darf ich eine Woche nicht fernsehen, dann sollen sie sich ruhig fürchten.

In Ihrer ehemaligen Schule Salem werden Schüler jeden Morgen mit Urinproben auf Drogen überprüft. Wer erwischt wird, fliegt sofort. Finden Sie diese Härte nicht etwas übertrieben?

Nein. Wir haben eine Zeit lang versucht, den Schülern eine zweite Chance zu geben. Das ist total schiefgegangen. Die Jugendlichen konnten so lang unbekümmert kiffen, bis sie die zweite Chance bekamen. Seit wir die „Todesstrafe“ verhängt haben, ist Ruhe.