Der Antiamerikaner

DAS SCHLAGLOCH von ILIJA TROJANOW

Es geht um einen Kampf, dessen Fronten mitten durch die US-amerikanische Gesellschaft gehen

Im Whisky A Go-Go am Sunset Boulevard in Los Angeles, einem legendären Nachtklub, in dem Jim Morrison und die Doors als Hausband Rockgeschichte geschrieben haben, herrschen mittlerweile ordentliche Zustände. Die auftretenden Gruppen sind bessere Schülerbands, die Mütter der Rocker sitzen in der Galerie und applaudieren entzückt, und nach dem Gig wird das Schlagzeug unter Anleitung eines fürsorglichen Vaters in den Familienbus geladen.

An den süßlichen Geruch eines Joints ist nicht zu denken in diesem Lokal, in dem selbst das Rauchen von Zigaretten untersagt ist; wer auf der Treppe stehen bleibt, wird umgehend von einem Sicherheitsmann aufgefordert, die Stufen zu räumen. Für jemanden, der von dem musikalischen und literarischen Aufbruch der sechziger Jahre geprägt wurde, ist der Besuch einer der „heiligen Stätten“ eine profunde Ernüchterung. Jim Morrison wälzt sich gewiss im Grab herum. Das befindet sich allerdings im fernen Paris.

Vor nunmehr fünf Jahren war fast die ganze Welt vereint in einem Gefühl der Solidarität mit den Menschen in den USA. „Wir sind alle Amerikaner“, titelte damals Le Monde, und selbst wem diese Behauptung etwas übertreiben erschien, fühlte mit den Bürgern von New York mit, so wie mit Opfern eines unfassbaren Schreckens.

Heute, zwei Angriffskriege und unzählige Lügen später, hat sich die öffentliche Meinung überall gegen die Außenpolitik der Vereinigten Staaten gewandt. Dies ist allgemein bekannt und müsste hier nicht kommentiert werden, wenn nicht in letzter Zeit eine bemerkenswerte und bedenkliche Tendenz sichtbar geworden wäre, jede kritische Haltung als „Antiamerikanismus“ zu verleumden. Wir leben in Zeiten, stand vor einigen Tagen in der New York Times geschrieben, in denen der Antiamerikanismus die vielleicht lebhafteste Idee auf dem Planeten ist.

„Anti“ bedeutet – so viel ist zumindest klar – „gegen“. Allerdings steht ein Anti nie auf eigenen Füßen, denn jedes „gegen“ benötigt naturgemäß einen „Gegner“. Der Antichrist widersetzt sich Jesus, und der Antisemit hasst alles Jüdische. Wie muss man sich dann den Antiamerikaner vorstellen? Verachtet er alles, was zwischen Alaska und Feuerland liegt? Möchte er die Neue Welt von der Landkarte tilgen?

Nein. Der gemeine Antiamerikaner (oder heißt er eher Antiamerikanist?) verachtet angeblich jenen Teil Amerikas, der von besonderer Bedeutung ist, nämlich die USA. Angesichts der Vielfalt des Landes, der widersprüchlichen Auffassungen und des divergierenden Selbstverständnisses seiner Bürger ist auch dies keine leichte Aufgabe, aber der eingefleischte Hass des Fanatikers macht es wohl möglich.

Neulich an einem Sonntag, als ich in dem Stadtteil Culver City im Süden von Los Angeles zunehmend frustriert eine Kirche suchte, in der laut Empfehlung eines Bekannten besonders schöner Gospel gesungen wird, schaltete ich – quasi zur Kompensation – im Radio auf einen der übertragenen Gottesdienste. Anstatt eines erhöhenden Gesangs vernahm ich eine Predigt. Der Priester kommentierte die Bombardierung des Libanon mit Hilfe von einschlägigen Zitaten aus dem Neuen Testament. Merkwürdig war allerdings, dass seine Stimme keineswegs von jenem gravitätischen Ernst getragen wurde, der Themen dieser Art üblicherweise zukommt, sondern sich vor Freude und Erregung fast überschlug. Die blutigen Ereignisse in Nahen Osten waren für diesen Gottesdiener höchst erfreulich, denn sie verkündeten das Nahen der Apokalypse.

Das letzte Gericht wurde von ihm so sehnsüchtig erwartet, dass jegliche Friedensinitiative wie eine Gotteslästerung erscheinen musste. Diese Wahrnehmung ist unter den christlichen Fundamentalisten, die den Bodensatz der neokonservativen Bewegung bilden, keineswegs eine Ausnahme, sondern die Norm. Der Weltuntergang ist keine Drohung, sondern eine Verheißung. Wie bei jenen anderen Fundamentalisten, die das Attribut „islamisch“ tragen.

Oft wird behauptet, die Antipathie gegen die USA sei keineswegs eine Reaktion auf die Missetaten dieses Staates oder seiner dominierenden gesellschaftlichen Kräfte, sondern im Gegenteil auf den Erfolg des amerikanischen Modells. Propagandisten der Anti-Haltung seien Neider, die die offensichtliche Schönheit und vorbildliche Freiheit der Vereinigten Staaten nicht akzeptieren könnten. Dieses Argument ist deswegen so perfide, weil es zu einer „Catch-22“-Situation (Erfindung eines großen Amerikaners namens Joseph Heller) führt: Wer die wahren Ideale der US-amerikanischen Revolution einklagt, ist ein Antiamerikaner.

Die blutigen Ereignisse im Nahen Osten waren für diesen Gottesdiener höchst erfreulich

In diesem Sinn waren Henry David Thoreau, Martin Luther King, Sinclair Lewis oder Allen Ginsberg, nur um willkürlich einige vorbildliche Vertreter der rebellischen Tradition zu nennen, allesamt rabiate Antiamerikaner. Es geht also nicht nur um eine Rhetorik der gegnerischen Diffamierung, sondern um die Hoheit über die Bestimmung, welche Werte die USA repräsentieren und wer über sie wacht. Um einen Kampf also, dessen Fronten heute mitten durch die US-amerikanische Gesellschaft gehen.

Wer – so wie ich in den letzten Wochen – durch Kalifornien fährt, sieht immer wieder auf Banderolen an Hecken und Zäunen, auf Aufklebern an Autos, die Forderung: Impeach Him (Klagt ihn wegen seiner Amtsvergehen an)! Wer die Leserbriefe in den Zeitungen liest und mit Zufallsbekanntschaften Gespräche führt, wird vielleicht erstaunt sein, wie viel Antiamerikanismus unter den US-Bürgern zu finden ist. Das sind die Partner unseres transatlantischen Bündnisses, diese hellsichtigen, kritischen Stimmen, die im Sinne eines alternativen Patriotismus die Abwendung von all dem, was die USA bewundernswert gemacht hat, beklagen, ja verdammen.

Aus ihrer Sicht gibt es keinen Zweifel, wer die wahren Antiamerikaner sind: ein Präsident namens George W. Bush und seine Kamarilla aus Gaunern und Betrügern sowie die vielen verbündeten Hetzer in den Medien. „Dieser Kampf wurde als Zusammenprall der Zivilisationen bezeichnet. In Wahrheit ist es ein Kampf um die Zivilisation“, sagte Bush vorgestern in seiner Rede zum Jahrestag des 11. September 2001. Wie Recht er hat. Nur findet der Kampf nicht in Falludschah oder Gaza statt, sondern in Washington, D.C.