Superunkraut vergeht nicht

Der Hartware MedienKunstVerein in Dortmund feiert sein zehnjähriges Bestehen mit der großen Überblicksschau „The Wonderful World of irational.org – Tools, Techniques, Events 1996–2006“

von MEIKE JANSEN

Der Weg zur Phoenix-Halle führt durch eine Siedlung grauer Mehrfamilienhäuser. Seit der Schließung des Stahlwerks Phoenix entsteht hier, in Hörde am Rand von Dortmund, einer der größten Innovationsstandorte Deutschlands. Mikro- und Nanotechnologie, IT-Firmen, Wohn- und Freizeitanlagen im Grünen werden dann morbide Leere, aber auch viele der AnwohnerInnen aus der Wohnsiedlung verdrängen. Inmitten der riesigen maroden Industrielandschaft stößt man schon seit zehn Jahren auf international beachtete Kunst – dank dem Hartware MedienKunstVerein (HMKV) in der Phoenix-Halle.

Gezielt legten die Kunstkritikerin Iris Dressler und der Künstler Hans D. Christ bei der Gründung der Hartware Projekte 1996 den Schwerpunkt auf zeitgenössische, experimentelle Medienkunst. Die wachsende Anerkennung aus dem In- und Ausland bestätigt diese Ausrichtung ebenso wie das seit 2000 von der HMKV betreute Stipendium des Landes Nordrhein-Westfalen für Medienkünstlerinnen aus NRW. Das Dortmunder Kulturbüro erkannte schon früh das Potenzial der Gründung für den sich in Umstrukturierung befindlichen Industriestandort. Heute ist die Stadt so von der Zusammenarbeit überzeugt, dass sie dem Verein eine zentrale Rolle während der Feierlichkeiten zur „Kulturhauptstadt 2010“ einräumt.

Zu seinem zehnjährigen Jubiläum gibt sich der Verein bodenständig. Die Ausstellung „The Wonderful World of irational.org“ erlaubt es denn auch, die Entwicklung der Netz- und Medienkunst in den letzten zehn Jahren exemplarisch zu beleuchten. In Absprache mit den Künstlern wird die Netzkunst nicht nur auf Rechnern und Monitoren gezeigt, sondern auch in Dokumentationen anschaulich, die für den Ausstellungsraum entwickelt wurden. „Denn“, wie die künstlerische Leiterin des HMKV, Inke Arns, sagt, „eines habe ich hier auf jeden Fall gelernt: Kunst zu vermitteln“.

1996, im Jahr der Vereinsgründung, brachte der aus Bristol stammende Heath Bunting den irational Server – angeblich direkt unter dem House of Parlament in London – ans Netz, der seitdem einer losen Gruppe von sechs internationalen Netz- und MedienkünstlerInnen als gemeinsame Plattform dient. Ebenfalls 1996 stellte Inke Arns die Ausstellung „un-frieden“ in der Hamburger Kunsthalle zusammen, bei der sich der spätere irationalist Daniel G. Andújar, alias „Technologie To The People“, und Heath Bunting kennen lernten. Der Spanier Andújar hatte damals seine künstlerische Basis im Dortmunder Künstlerhaus, wo auch die Hartware-Projekte ihren Anfang nahmen.

Mit minimalem technischem Aufwand, einer ebenso schlichten Ästhetik und trockenem Humor trat irational Mitte der 90er-Jahre an, die Blase des Neuen Marktes zu kommentieren. Nichts schien damals in der Kommerzialisierungseuphorie unverkäuflich, nicht einmal die Sprache. Das verdeutlichte Heath Bunting, indem er 1998 jedes Wort eines Artikels, den das Wired Magazin über ihn veröffentlicht hatte, mit den Dot.com-Adressen namensgleicher Firmen verlinkte. „_read me“, so der poetische Name des Projekts, avancierte in den folgenden Jahren zu einem Klassiker der Netzkunst. Wie Urkunden zieren gerahmte Firmenschreiben die Wände der Phoenix-Halle und berichten von überforderten Rechtsanwälten während dieser Auseinandersetzung um Urheberrecht.

Wegen der von ihnen verbreiteten Spam Art mussten andere KünstlerInnen die Mailingliste Nettime verlassen, worauf zentrale Figuren der Netzkunst wie etwa der Russe Alexei Shulgin die „kundenorientierte“ 7-11-Mailingliste gründeten, die auf Forderung der gleichnamigen Supermarktkette bald darauf eingestellt werden sollte. Heath Bunting subskribierte die 7-11-Abonnenten in eine neue Mailingliste namens „American Express“, die auf die Entwicklungen in der US-amerikanischen Kunstszene verwies, in der die Netzkunst zu einer nationalen Errungenschaft stilisiert wurde. Vom Londoner Server aus arbeitete die 7-11-Gruppe weiter, indem sie MitarbeiterInnen der Supermarktkette mit Spam überhäufte. In einer atmosphärischen Büroecke lässt sich nun in 15 Aktenordnern die Korrespondenz einsehen, die drei Monate weißes Rauschen dokumentiert.

Zur gleichen Zeit entwickelte irational Werkzeuge, um sich auf praktischer wie auf konzeptueller Ebene in die Wunden der sich vernetzenden Gesellschaft zu bohren. Technisch unaufwändig war die „Street Access Machine“, die Andújar nur auf dem Papier entwickelte. Die Maschine, so heißt es in der ausgestellten Werbung, erlaube es Bettlern, Zahlungen via Kreditkarte entgegenzunehmen, was die Ausrede „kein Kleingeld“ entkräftet hätte. Dieser ironische Kommentar auf den Glauben an die technologische Machbarkeit erschien Apple allerdings nicht absurd genug. Und so ging bei irational bald eine Anfrage der Computerfirma ein, in der sie Interesse an dem Produkt bekundete.

Die wenigen Computer, die in der Phoenix-Halle in Betrieb sind, dienen meist zur Einsicht in Datensammlungen. Die Dokumentation der irational-Projekte und ihrer hochironischen Guerillataktik setzt auf konkrete Anschaulichkeit, die so weit geht, dass man sich seine Garderobe aufbügeln und mit dem Logo von irational aufmöbeln lassen kann, das markant an das Emblem der International Air Transport Association (IATA) erinnert. Sowieso sind die Eyecatcher in der riesigen Halle Absperrgitter, wie sie auf dem gesamten Gelände zu finden sind. In der Ausstellung sind sie zum Zerschneiden freigegeben und markieren einen Wendepunkt in der Arbeit von Heath Bunting. Seit 1997 widmet er sich ausschließlich der Rückeroberung des öffentlichen und nicht des virtuellen Raums, auch wenn irational das oft gleichsetzt. Aktionen wie die „Tour de Fence“ von Kayle Brandon und Kate Rich, bei der verschiedene Arten des Zaunkletterns erforscht werden, oder der propagierte Bio-Aktivismus von Rachel Baker und Bunting, bei dem genetisch modifiziertes Unkraut als antikapitalistische Waffe gegen Monokulturen zum Einsatz kommt, verdeutlichen die gesteigerte Vorliebe von irational für Grenzüberschreitungen im realen Raum.

Bis 29. Oktober, Katalog (erscheint Ende Oktober bei Revolver – Archiv für aktuelle Kunst) 18 €, www.hmkv.de