Bürger haben Extra-Wahl

Am Wahlsonntag stimmen die Berliner auch über eine Verfassungsänderung ab, die Volksbegehren und -entscheide neu regelt. Aber worum geht es bei der Reform? Einige Antworten auf letzte Fragen

von ULRICH SCHULTE

Worum geht es bei der Volksabstimmung? Die BerlinerInnen können bei der Wahl am Sonntag nicht nur über Abgeordnetenhaus und Bezirksparlamente abstimmen, sondern auch über eine Verfassungsänderung. Das Parlament will den Bürgern mehr Mitbestimmung ermöglichen – und die in der Landesverfassung geregelten Hürden für Volksbegehren und -entscheide senken. Laut Verfassung muss dafür – weil es um Volksgesetzgebung geht – das Volk gefragt werden.

Wie sieht der Stimmzettel aus? Unauffällig. Die grauen Zettel werden Ihnen im Wahllokal ausgehändigt, neben den Wahlzetteln für die Abgeordnetenhaus- und Bezirkswahl. Darauf steht nur die trocken gehaltene Frage: „Stimmen Sie der Änderung der Artikel 62 und 63 der Verfassung von Berlin (…) zu?“

Ist die Reform ein Durchbruch, wie die Parteien sagen? Nein. Wer sich die Verfassungsänderung im Detail anschaut, sieht schnell: Die Parteien geben höchst ungern Macht an die Bürger ab. Je schwächer ein politisches Instrument ist, desto mehr Zugeständnisse gibt es. Ein Beispiel: Am deutlichsten haben die Parlamentarier die Hürden für die Volksinitiative gesenkt. Statt 90.000 Unterschriften von UnterstützerInnen sind nur noch 20.000 nötig, auch dürfen schon 16-Jährige unterschreiben. Die Schlagkraft der Volksinitiative ist begrenzt. Sie zwingt das Parlament dazu, ein Thema zu diskutieren – mehr aber auch nicht.

Aber mit Volksbegehren können doch die Bürger selbst Projekte durchsetzen? Richtig, aber hier haben die Parteien die Hürden nur vorsichtig gesenkt. Waren bisher 25.000 Unterschriften nötig, um ein Volksbegehren zu beantragen, sind es künftig 20.000. Das Bündnis für Direkte Demokratie hat ausgerechnet, wie viele der 13 Volksentscheide, die es bisher in Deutschland gab, bei Anwendung des Berliner Rechts Erfolg gehabt hätten – es sind genau drei. „Das ist eindeutig – und ernüchternd“, sagt Christoph Bruch vom Bündnis.

Ist die Reform dann überhaupt unterstützenswert? Sie ist zumindest ein Schritt in die richtige Richtung. Seit 1995 gilt die Gesamtberliner Verfassung, die Volksbegehren grundsätzlich ermöglicht. Allerdings sind die Hürden bisher so hoch, dass es keines der neun seitdem beantragten Volksbegehren bis zum letzten Schritt, dem maßgeblichen Volksentscheid, geschafft hat. Die Neuerungen steigern die Chancen, außerdem könnten die Bürger in Zukunft viel mehr Themen selbst anschieben, die vorher verboten waren. Zum Beispiel dürfen Volksbegehren den Haushalt beeinflussen, also Geld kosten. Sollte eigentlich selbstverständlich sein, ist es aber noch nicht.

Wo kann ich das noch einmal ausführlich nachlesen? Der Wahlbenachrichtigung, die sie per Post erhalten haben, lag ein Blatt bei, das die wichtigsten Punkte der Reform erklärt. Es liegt aber auch am Sonntag in jedem Wahllokal aus. Die Mehr-Demokratie-Lobbyisten informieren im Internet unter www.du-entscheidest-mit.de.

Ab wann gilt die Verfassungsreform als angenommen? Das haben die Parteien in einem Extra-Gesetz geregelt, und zwar äußerst unkompliziert: Mehr als die Hälfte der Abstimmenden muss „Ja“ ankreuzen. Bei anderen, von Bürgern angeschobenen Volksentscheiden ist zusätzlich ein Quorum üblich, also eine Vorschrift, dass eine bestimmte Mindestzahl der WählerInnen mitstimmen muss.

Warum gibt es dieses Mal kein Quorum? Weil die Parlamentarier ihre Reform so klug und gut finden, dass sie den Bürgern die Abstimmung leicht machen. „Natürlich ist das Parlament am reibungslosen Inkrafttreten interessiert. Wenn aber Bürger eine Änderung anschieben, sind die Politiker misstrauischer“, sagt Michael Efler vom Verein Mehr Demokratie. Lustiger Nebeneffekt des Extra-Gesetzes: Selbst wenn in ganz Berlin am Sonntag nur Parlamentspräsident Walter Momper wählen ginge, könnte er die Verfassungsreform in Kraft setzen oder scheitern lassen – mit einer einzigen Stimme.