Wo selbst die Zeit zur Form wird

Das Potential der Dinge: Indem er die Formen alltäglicher Dinge aufweicht und verflüssigt, hat der britische Bildhauer Tony Cragg ein neues Repertoire an skulpturalen Gestalten erfunden. Seine Ausstellung in der Akademie der Künste in Berlin reflektiert die Geschichte der Verwandlungen

„Die Bildhauerei hat gerade erst begonnen“, sagt Tony Cragg. „Ihre Sprache und ihre Formen fangen gerade erst an, sich zu entwickeln.“ Andere Professionen – etwa Designer, Techniker, Chemiker – haben gegenwärtig mehr mit dem Gestalten von Dingen zu tun. Die Welt ist voll von ihren Produkten. Als Bildhauer sieht sich Cragg in der Rolle eines Exoten, der ästhetische Grundlagenforschung betreibt.

In der Berliner Akademie der Künste kann man sich nun davon überzeugen, wie Cragg, geboren 1941 in Liverpool, der Bildhauerei in fast all ihren wesenhaften Seiten zu Leibe gerückt ist. 27 plastische Arbeiten der unterschiedlichsten Art sind zu sehen, in Bronze, Stahl, Holz oder Kunststoff, mal farbig gefasst, mal mit durchlöcherter Oberfläche. Einige, groß wie Felsen oder Dinosaurier, wirken in der hohen Halle des alten Akademiegebäudes wie ein surrealer Gruß aus der Zeit der Riesen.

Am Beginn des Parcours stehen die „Early Forms“, meist aus Bronze, die so aussehen, als hätte man eine Vase am offenen Ende aufgebogen und dann in ihrer ganzen Form verzogen. Eine der Plastiken erinnert in ihrer dumpf-rötlichen Farbgebung an eine Saugglocke aus Gummi – nein, an ein ganzes Bündel solcher Saugglocken, die zu einer Walze aneinander gefügt und dabei zugleich extrem verformt wurden: als wären sie um eine imaginäre Achse gewunden, sodass die Öffnungen mit ihrem wulstigen Rand schmal nach außen zeigen. Ob Cragg sich im heimischen Badezimmer inspirieren ließ? Der Titel der Skulptur lautet „Sindbad“, möglicherweise steckt darin eine Anspielung.

Die Methode der Verformung findet sich auch bei „Can-Can“, nicht nur an einen bekannten Tanz erinnert der Titel, sondern gibt auch einen Hinweis auf den Ursprung von Craggs plastischem Denken: verformte, eingedrückte Bierbüchsen. Jeder Biertrinker ein Künstler? Nein, es sei denn, man erblickte im Zerdrücken von Blechdosen zuerst einen fundamental-plastischen Akt – wie Cragg.

Tatsächlich aber fing Cragg seine Bildhauerkarriere nicht mit Bierdosen an sondern mit Plastikflaschen. Cragg sammelte Plastikverpackungen, sortierte sie nach Farben und machte daraus Silhouettenbilder, die er wie ein Mosaik zusammenfügte. Es entstanden Figuren und auch ein Selbstporträt auf einem Stuhl.

Die Berliner Ausstellung zeigt von diesen, noch in den Siebzigerjahren begonnenen Arbeiten nichts. 1988 erhielt er den Turnerpreis. Aber nur eine Sammlung von übereinander gestapelten Glaswaren mit dazwischen liegenden Glasböden von 1998 weist zurück und lässt sich wie ein Echo auf seine Anfänge lesen. Die sandgestrahlten Gläser, Vasen oder Flaschen widmen sich zugleich schon einem neuen Thema: der Oberfläche.

Die Vielfalt in Craggs Werk kommt nämlich dadurch zustande, dass er allen Dimensionen der Plastik – ob Material, Volumen, Oberfläche, Statik oder Farbe – mit nimmermüdem Forschergeist nachgeht. Dass sein „Sindbad“ aussieht wie aus Gummi, tatsächlich aber aus Bronze besteht, ist eines der „Potentiale der Dinge“, wie der Titel der Ausstellung lautet. Im Grunde sieht Cragg in der Alltagsform der Gebrauchsdinge nur eine Erstarrung, die es wieder aufzuweichen gilt. Durch Verformung entsteht Kunst. Oder durch den Ersatz eines Materials durch ein anderes. Wandlung und Verwandlung sind das Leitthema des Bildhauers geworden.

Letztlich sind alle Dinge im Grunde immer nur vorübergehende Erscheinungen, in denen die Atome bestimmte Konstellationen eingegangen sind. Sie sind Ausdruck eines plastischen Prozesses, genauso wie jene tropfenartigen Gebilde aus Eisenblech, die mit anderen, mehr flachen Teilen und einer auf den Kopf gestellten Glockenform zusammengeschweißt und gelb angemalt sind. Dass das extrem schwere Ding auf drei kleinen Auflagepunkten steht, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, ist staunenswert – und wieder eine andere Dimension der Bildhauerei, die Cragg hier auslotet. „Distant Cousin“ hat Cragg seine Skulptur genannt.

Auch die organischen Formen verwandeln sich im Laufe der Zeit, wie die Evolution uns lehrt. Zu den Dimensionen des Plastischen gehört für Cragg deshalb eigentlich auch die Zeit, die eine Form in eine andere überführt. Dieses Moment der Verwandlung hat Cragg versucht, auch plastisch auszudrücken. Die Serie der „Profile“ in der Ausstellung gibt davon einen Eindruck. Diese schlingernden Säulen bestehen aus vielen elliptischen, übereinander verleimten Holzscheiben. Aus der Seitenansicht erkennt man Profile von Gesichtern, die beim Gang um die Plastik herum in andere Profile übergehen.

Diese Art der Verwandlung von einer Form in eine andere kennt man aus den Specialeffects im Kino und heißt dort Morphing. Cragg hat die zeitliche Abfolge der Verwandlung in den Raum übersetzt und daraus Skulpturen gemacht.

Ergänzt wird die Ausstellung von 177 Zeichnungs- und Grafikblättern an den Wänden, die nur indirekt mit den Skulpturen in Beziehung stehen. Die Blätter zeigen Craggs plastisches Denken in einem anderen Medium. Die Idee zu einer Cragg-Ausstellung in der Berliner Akademie liegt schon sieben Jahre zurück, als der seit fast dreißig Jahren in Deutschland lebende Brite noch nicht Mitglied der Akademie war. Inzwischen zählt Cragg wegen seiner Neuerfindung der Bildhauerei mit Recht zu den bedeutendsten Künstlern seines Metiers. RONALD BERG

Berlin, Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, dienstags bis sonntags 11–20 Uhr, bis 29. Oktober. Künstlerbuch zur Ausstellung (Buchhandlung Walther König, Köln) 34 €