Grüne lassen PDS links liegen

Die Linkspartei erleidet deutliche Verluste. Am Abend danach suchen die Spitzen nach Fehlern

Gregor Gysi steht starr, das Kinn hält er hoch, die Arme hängen steif herunter. Zwanzig, dreißig, vierzig lange Sekunden steht er so. Auf seiner Stirn spiegelt sich das Kameralicht in einigen Schweißtröpfchen, sein Blick verliert sich irgendwo im Dunkel unter dem Zeltdach. Das Fernsehteam, das um ihn herumwuselt, verschafft der zur Säule erstarrten PDS-Ikone eine endlos scheinende Pause an diesem Abend, und vielleicht sucht Gysi ganz für sich eine Antwort auf die entscheidende Frage: Warum?

Die PDS hat verloren. So dramatisch, dass viele GenossInnen erschrocken die Hand vor den Mund schlagen, als die ersten Hochrechnungen auf die Leinwand flimmern – eine Sekunde nachdem sie laut über die CDU gelacht haben. Es sind nicht nur die Zahlen. Bei Redaktionsschluss lag Gysis Partei bei 13,2 Prozent, das sind fast 10 Prozentpunkte weniger als bei den Wahlen 2001. Und noch schlimmer: Die Grünen, der Konkurrent im Kampf um Klaus Wowereits Gunst, liegt ein Zehntelprozent vorn. Die verhasste WASG hat einen Achtungserfolg eingefahren. Der Ort der PDS-Wahlparty, ein Zelt auf dem Schlossplatz, bekommt plötzlich eine schreckliche Symbolik: Hinter dem Zelt ragt das rostige Stahlgerippe des Palastes der Republik in den Abendhimmel.

Und Gregor Gysi, der in Berlin auch mal Wirtschaftssenator war, gibt hinter dem Rednerpult Antworten für die Schlappe. Es sind zwei. Die WASG. „Wenn PDS und WASG gegeneinander antreten, schadet das beiden. Die kommen nicht ins Parlament, uns fehlen 3 Prozent.“ Der Sparzwang. „Wir haben von der großen Koalition einen Riesenhaufen Arbeit übernommen.“ Dann ruft er mit geballter Faust: „Wir müssen die Interessen der Ostdeutschen wieder stärker artikulieren, auch in Berlin!“ An keiner Stelle klatschen die rund 500 Genossen so laut wie hier.

Sie haben Trost nötig. Es herrscht kein Entsetzen in den stickigen Räumen, aber eine hoffnungslose Resignation – als hätten die meisten die Niederlage kommen sehen. „Im Wahlkampf schlug uns oft Desinteresse entgegen, eine höfliche Ablehnung“, sagt Anni Seidl, die mit Freunden das Ergebnis diskutiert. Und am Bierstand, wo man am ehesten die Wahrheit erfährt, sagt Peter Lompscher, seit zwei Tagen PDS-Mitglied: „Ich hätte es sogar noch schlimmer erwartet.“

Aber warum? Eigentlich war alles anders gedacht: Es gibt Fassbier und Buletten in der Schrippe, am Bücherstand liegt das Fidel-Castro-Porträt neben Sahra Wagenknechts „Kapitalismus im Koma“. Doch aus dem lauschigen Parteiabend, den viele grauhaarige Herren auf der Digitalkamera festhalten, wird nichts. In der Analyse stimmen die meisten ihren Parteispitzen zu. Lompscher, der Ohrring und Käppi trägt, sagt, die monatelangen Querelen mit der WASG hätten die Wähler abgeschreckt. Seidl, eine ältere Dame, die in der DDR als Professorin Philosophie lehrte, gibt auch den pauschalisierenden Medien die Schuld: „Einige der Kompromisse, die in der Koalition gemacht wurden, wurden falsch vermittelt – und waren auch sehr kompliziert zu vermitteln.“ Die Kitagebühren etwa. Eigentlich sei für schlecht verdienende Familien die Gebühr gleich geblieben. „Aber in der Öffentlichkeit kam an: Die PDS erhöht die Kitagebühren.“

Heidi Knake-Werner wird einige Minuten später vorne, vor dem roten Dreieck mit dem Aufruck „Berlin bewegt“, die Niederlage eingestehen. Und auch Harald Wolf, der Spitzenkandidat, murmelt in eine Fernsehkamera, man habe in den fünf Jahren „schwere Aufräumarbeiten“ zu erledigen gehabt. Gregor Gysi denkt dann auch über die zweite entscheidende Frage nach: „Man muss Ja sagen können, wenn man einiges erreichen kann – aber Nein sagen, wenn das nicht geht.“ ULRICH SCHULTE

Die Grünen holen das beste Wahlergebnis aller Zeiten. Jetzt drängen sie an die Macht

Egal wer am Ende das Rennen macht: Für die Grünen war es ein Abend der Superlative. Bestes Wahlergebnis in Berlin aller Zeiten, im Osten fast 5 Prozentpunkte zugelegt, die PDS abgewatscht. „Wir sind die Gewinner“, ruft Fraktionschef Volker Ratzmann in staatsmännischer Pose, als er sich mit schwarzem Anzug, weißem Hemd und grüner Krawatte kurz vor 20 Uhr im Schlepptau von Renate Künast durch die Menge schiebt.

Mehrere hundert Grünen-Mitglieder und -Wähler haben sich im Kaisersaal am Potsdamer Platz eingefunden. Sie werden es im Laufe des Abends nicht bereuen: Die Zahlen auf der Videoleinwand, die nach und nach die Realität herausarbeiten, übertreffen selbst die kühnsten Vorstellungen. Erst ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der PDS, dann sogar ein leichter Vorsprung. Die Stimmung wird immer ausgelassener. Grün sein macht Spaß an diesem Abend.

Den größten Applaus bekommt André Stephan. Der Lichtenberger hat auf Platz 26 der Landesliste kandiert. Ob er es ins Abgeordnetenhaus geschafft hat, weiß der 26-jährige Verkehrsexperte nicht. An diesem Abend sorgt er für Aufsehen, weil er mit der an einem Besenstil befestigten Titelseite der B. Z. durch die Menge läuft: „Macho Rot und Mama Grün“, steht da über zwei großen Fotos von Klaus Wowereit und Franziska Eichstädt-Bohlig. Ein Pfeil weist auf das Gesicht der grünen Spitzenkandidatin: „Wird sie seine Meisterin?“

Die Meisterin lässt sich zu so früher Stunde noch nicht beim Fußvolk blicken. Aber Claudia Roth, ununterbrochen redend, und Reinhard Bütikofer, stark transpirierend, geben sich die Ehre. Jürgen Trittin steht breitbeinig mit verschränkten Armen in der Menge. „Natürlich können die Grünen besser regieren als die PDS“, lautet sein Kommentar. „Mit einer knappen Mehrheit regiert es sich leichter“, verweist er auf die große Koalition im Bund. Aber dass Wowereit sich für die Grünen entscheiden wird, bezweifelt Trittin: „Eine gedemütigte Linkspartei ist natürlich ein sehr einfacher Koalitionspartner.“ Ganz so einfach, glaubt Wolfgang Wieland, Urgestein der Berliner Grünen, wird Wowereit nicht davonkommen. „Er wird Druck bekommen, und zwar von seinen eigenen Genossen, vor allem denen aus dem Osten. In der SPD gibt es den Ruf nach Rot-Grün.“

Grau, damit sind die Haare gemeint, ist an diesem Abend die dominierende Farbe. Aber nur in der Mitte des Saals vor dem Podium. Weiter hinten und an den Rändern haben sich die Jüngeren versammelt. Die Grüne Jugend fiebert mit. Sie hofft, dass es die jungen Kandidaten auf den hinteren Listenplätzen ins Abgeordnetenhaus schaffen. „Wenn Wowereit schlau ist, macht er mit uns“, sagt der 21-jährige Björn Ruberg. Umwelt, Hochschule, Bildung, all dies könnten die Grünen besser als die PDS, pflichtet ein 48-jähriger Grünen-Wähler bei. Vor allem aber eins: „rechnen“. Ein paar Meter weiter erzählt Wieland von seinen Erfahrungen bei den Sondierungsgesprächen mit der SPD nach der Wahl 2001. „Wir wissen, was wir wollen. Wir sind gut vorbereitet.“ So lange wie damals dürften sich die Gespräche nicht hinziehen, sagt Wieland. „Die Knackpunkte müssen sofort auf den Tisch – und nicht erst nach sechs Wochen wie damals.“ Eine 65-jährige Frau, seit ihrer Jugend Mitglied der SPD, sagt voller Inbrunst: „Meine Wunschkonstellation ist Rot-Grün.“ Nur der Einzug der NPD in Mecklenburg-Vorpommern hat ihre Freude getrübt.

Über den Monitor flimmert das Ergebnis des Fußballspiels Hertha gegen Schalke 04. Hertha hat die Jungs aus dem Ruhrpott mit 2:0 geschlagen. Ein gutes Omen für Rot-Grün in Berlin? Danach kommt das Wetter. In ganz Deutschland regnet es, nur nicht in der Hauptstadt. PLUTONIA PLARRE