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: Sichtbar gemachte Tagträume

Creme-Schlieren, Wasserblasen, schwebende Ballons: Warumdie Werbung vermehrt surreale Motive verwendet

In der Werbung gibt es seit ein paar Jahren eine Vorliebe für surreale Motive: Substanzen gleißen, sprudeln, schweben, die Logik des Raums ist entkräftet, Lichterscheinungen verklären und verfremden das Abgebildete. Von den Creme-Schlieren bei Nivea bis zu den Blasen von O2 tragen ins Fantastische übertriebene Elemente sogar wesentlich zum Corporate Design einzelner Labels bei. Man könnte es sich einfach machen und diese Phänomene als direkte Folge digitaler Bildprogramme ausgeben: Wenn schon so viele Specialeffects angeboten werden, braucht nicht zu verwundern, dass sie auch zahlreich Verwendung finden. Doch hat man damit höchstens eine technische Voraussetzung für den Surrealismus-Trend benannt, aber noch keine Gründe. Zumindest zwei sind aber ziemlich offensichtlich.

So enthebt der Surrealismus das Beworbene dem Risiko, auf einen Gebrauchswert reduziert und verpflichtet zu werden: Auch wenn der Napf einer Anti-Aging-Creme in der Anzeige von einem Energiefeld umgeben scheint, das den Verjüngungsstoff regelrecht in einen Strudel geraten lässt, kann niemand eine Mängelrüge geltend machen, sollten nach Anwendung der Creme nicht alle Falten weggeschleudert sein. Soweit man sich auf Specialeffects zurückzieht, darf man vielmehr ohne Gefahr übertreiben. Die Übertreibungen aber betreffen eigentlich immer Produkteigenschaften. Und die lassen sich – das ist ein zweiter Grund für die Surrealismen – auf diese Weise besser profilieren. Vor allem aber emotionalisieren sie die Konsumenten: Hoffnungen, die sich an ein Duschgel oder Lippengloss knüpfen, werden in der verfremdend-übersteigerten Darstellung lebendig und eindrücklich bestätigt.

Mittlerweile sind auch Methoden entwickelt worden, um nicht nur allgemein die Erwartungen zu erforschen, die gegenüber einem Produkt bestehen, sondern um sogar herauszufinden, in welchen Bildern – Metaphern – die Konsumenten ihre Wünsche bevorzugt denken. Eine Werbeanzeige setzt diese Bilder dann oft einfach nur noch um. Was so surreal anmutet, ist also nichts anderes als eine Summe sichtbar gemachter Tagträume einer konsumseligen Gesellschaft. Dass man diese Träume anzapft, ist auch der weniger offensichtliche, aber primäre Grund für den Specialeffect-Stil weiter Teile heutiger Werbung.

Am erfolgreichsten dürfte dabei ZMET sein, ein in den USA patentiertes Verfahren, dessen Buchstaben für Zaltman-Metaphor-Elicitation-Technique stehen. Gerald Zaltman, Marketingwissenschaftler, entwickelte diese Technik der Metaphern-Auslegung in den 1990er-Jahren. Dabei werden etwa fünfzehn Probanden ausgewählt, die zu dem Produktbereich, der erforscht werden soll, in enger persönlicher Beziehung stehen. Man interviewt sie so, dass sie bei der Beschreibung ihrer Produkterfahrungen und -erwartungen möglichst viele Metaphern verwenden. Dazu arbeitet man mit Bildern und bittet die Probanden am Ende des Interviews, selbst eine eigene Bildcollage zu entwickeln, die möglichst alle angesprochenen Empfindungen zusammenfasst. Diese Collage erleichtert den Interviewern die Auswertung des Gesprächs, wobei sie die verwendeten Metaphern systematisieren, also darauf achten, ob sie bevorzugt aus der Natur, dem Sport oder dem Familienleben stammen und was für Erfahrungstypen darin zum Ausdruck gelangen (z. B. Bewegung, Coolness, Frische). Das genaueste Augenmerk gilt jedoch der Frage, wie einzelne Metaphern miteinander verknüpft sind und mit welchen Argumenten sie begründet werden. Infolge einer Analyse dieser Zusammenhänge wird dann eine mentale Landkarte des Probanden aufgezeichnet.

Damit ist der Ausdeutungs-Prozess jedoch noch nicht beendet. Vielmehr besteht das größere Ziel darin, aus den einzelnen Landkarten eine einheitliche Karte („consensus map“) zu erstellen, die die Gemeinsamkeiten zwischen den Probanden sowie verallgemeinerbare Empfindungsmuster gegenüber einem Produkt oder einer Marke abbildet. Dann lässt sich etwa feststellen, ob ein Artikel innerhalb von Ritualen des Alltags oder als Ausgleich zu diesem eine Rolle spielt und inwiefern damit soziale Erfahrungen oder aber individuelle Erlebnisse gesucht werden. Genauso eignet sich die ZMET, um das Verhältnis der Konsumenten zu einem Material, einem Marken-Relaunch oder einer Dienstleistung zu untersuchen.

Die Werbeagentur kann auf der Basis solcher „bildgebender“ Verfahren also ziemlich mühelos Situationen, Plots oder Atmosphären für ein Produkt entwickeln. Und wenn man Gerald Zaltman glauben darf, dann verdanken nahezu alle Produkte ihr Überleben vor allem einer klugen Verwendung von Metaphern in Vermarktung und Design, also dem Einsatz von Methoden wie ZMET. Ist es da beruhigend oder zu bedauern, dass immer noch rund 80 Prozent aller neu auf den Markt kommenden Artikel bereits nach einem halben Jahr wieder verschwunden sind?

WOLFGANG ULLRICH