Arbeit an den Tagesresten

Alles nur Projektion: Die Ausstellung „Kino im Kopf. Psychologie und Film seit Sigmund Freud“ im Berliner Filmmuseum zeigt das Kino und die Psychoanalyse als Schlüsseltechniken der Moderne

Freud hatte kein Interesse am Kino: Der Hollywood-Produzent Goldwyn wollte ihn als Drehbuch-Berater gewinnen, doch Freud schlug aus

VON JÖRG BECKER

„Ich will jetzt bei Ihnen die Vaterstelle annehmen … vielleicht haben Sie mir etwas zu sagen?“ Das sagt der bärtige Analytiker zu einem unter Amnesie leidenden Gregory Peck in Hitchcocks „Spellbound“, einem Film, in dem Trauma und Verdrängung die Story bestimmen. So oder ähnlich kennt man die Psychoanalyse im Film. Nun hat die Deutsche Kinemathek eine Ausstellung im Filmmuseum von Berlin eröffnet, die interdisziplinär Wissenschaftsgeschichte und Erkenntnisse der modernen Forschung dem Kontinent des Kinos annähert. Ein umfangreiches Filmprogramm und eine Vortragsreihe begleiten die Schau.

Die Herstellung des klassischen Psychoanalyse-Settings darf nicht fehlen: Der für den Analytiker reservierte Fauteuil steht meist rechtwinklig zur Couch an deren Kopfende. Die Stellung veranschaulicht die Grundhaltung des Therapeuten: die Abstinenz, die Neutralität, die wohlwollende Duldung des zuhörenden Analytikers. Ein Austausch von Worten unter Vermeidung des Blickkontaktes. Die Couch: das Symbol der Analyse, wesentliches Möbelstück für die analytische Behandlungstechnik, steht für Intimität, das absurde Selbstgespräch, die Begegnung mit dem Unbewussten – ein Topos, der oft zwischen Persiflage und Karikatur dargestellt ist. In der Ausstellung befindet sich eine rote Liege, kein Exponat, sondern eine Versuchsanordnung für Besucher, über der, wenn man sich auf ihr niedergelassen hat, Analyse-Szenen aus dem Kino ablaufen – etwa Woody Allen und Diane Keaton im „Stadtneurotiker“. Auf die Frage „Wie oft hatten Sie Sex?“, antwortet er: „So gut wie gar nicht, dreimal die Woche“ – und sie: „Dauernd, dreimal die Woche.“

Häufig begegnet man bei Freud dem Begriff „Projektion“, mit dem er eine Verschiebung von Gefühlen nach außen bezeichnet, als sei die Welt eine Leinwand und der Mensch der Projektor. Film und Fantasie werden analog als Bildwerfer begriffen – indes zeigte Freud zeitlebens am Kino selbst wenig Interesse, Aufsehen erregte seine Reaktion auf das große Geld der Movies: Der Hollywood-Produzent Goldwyn wollte Freud als Drehbuchberater gewinnen, doch die 100.000 Dollar schlug der Analytiker aus und lehnte es ab, den Tycoon zu empfangen; „die Verfilmung der Psychoanalyse lässt sich sowenig vermeiden wie, scheint es, der Bubikopf, aber ich lasse mir selbst keinen schneiden.“

Eine Unternehmung realisierte sich allerdings trotz Ablehnung Freuds unter der Regie von G.W. Pabst mit „Geheimnisse einer Seele“ (1926). Zwei Berliner Analytiker, Karl Abraham und Hanns Sachs, fungierten als Berater. Die Begleitbroschüre lieferte eine erste populäre Darstellung der Psychoanalyse; und trotz Spielfilmhandlung wurde der Film von der Ufa-Kulturfilmabteilung vertrieben.

Als späte Kunstform hat der Film noch jede Kultur, die ihm begegnete, erobert. Der Neurophysiologe sieht die Ursache dafür in der Ähnlichkeit von Film und Bewusstsein, was dem Medium scheinbare Natürlichkeit verleiht. Auch wenn im aufgeklärten Zuschauer noch kritischer Zweifel übrig sein sollte, so ist er neurologisch doch direkt anrührbar – Kernspintomografien visualisieren die verschiedenen farblich markierten Areale vom Hirn eines Zuschauers in unterschiedlichen Gefühlszuständen: Trauer, Freude, Zorn oder Angst. Schon bei extrem kurzen Vorführungen angstauslösender Bilder werden Stress-Alarm-Reaktionen verursacht, die das Bewusstsein gar nicht erreichen.

Dementsprechend sind Neurowissenschaftler, Psychiater und Hirnforscher entlang des Parcours auf den Monitoren und im lesenswerten Katalog als Sachverständige zahlreich vertreten; sie erden, was dem Besucher an Fiktion begegnet. In einem „Tränenkabinett“ kann der angesichts von Ausschnitten aus Hollywood-Melodramen seine Gefühlsreaktionen testen und womöglich den Geheimnissen des Kinos aufgeklärter begegnen, in deren Folge Kafka in sein Tagebuch notierte: „Im Kino gewesen. Geweint.“

Der „Prolog“, die erste Abteilung der Schau „Kino im Kopf“, führt in einen Flur, von dem aus Türen zu drei Kabinetten führen – in ein Labor, einen Klinikraum und eine kleine Abteilung, die Freuds Verhältnis zu den Künsten veranschaulicht. Das „Prä-Kino“ beginnt mit Hirnpräparaten, früher Sichtbarmachung von Nervenzellen, mit Blicken in die Klinik auf Hysteriepatienten, mit Freud als Neurologen und mit dem Hysterieforscher Charcot in Paris. Psychoanalyse und Kino werden als nahezu gleichaltrige Schlüsseltechniken der Moderne vorgestellt. Der Körper stand im Blickpunkt der Psychiatrie, mit Phasenbildern wurden motorische Abläufe veranschaulicht, pathologische Bildarchive wurden angelegt.

„Schaulust“, „Traum und Deutung“ und „Rausch“, „Verdrängung und Erinnerung“, „Narzissmus und Identität“ sind die weiteren Themen überschrieben, zu denen die Kuratoren mehr als vier Stunden audiovisuelles Material montiert haben. Mit stroboskopischen Flickereffekte wirken Ken Jacobs’ experimentelle Filme direkt auf die Wahrnehmung des Betrachters ein, Drogenerlebnisse aus der Innenwelt der Personen in „The Trip“ und „Easy Rider“ sind mit psychedelischen Farben, beschleunigten Schnittfolgen und verwackelten Aufnahmen erzielt. Zu den meistpräsentierten Regisseuren gehören Luis Buñuel, dessen Traumszenen aus „Ein andalusischer Hund“ und „Belle de jour“ kanonisch sind, Ingmar Bergman, dessen Traumsequenz aus „Wilde Erdbeeren“ wie aus dem ikonografischen Lehrbuch zur Symbolisierung von Tod und Ende zusammengesetzt erscheint, und Alfred Hitchcock, dessen Filme – gleich ob „Spellbound“, „Psycho“ oder „Marnie“ – reichhaltiges Material bergen.

Mit der Geschichte des Kinos hat sich Film für Film eine Kenntnis der Psychoanalyse im Zuschauer akkumuliert, sodass heute kaum ein Drehbuch mehr „funktioniert“, ohne auf diese Apparatur des Story-Wissens anzuspielen. Kein Wunder, dass die Profiler so beliebt sind.

bis 7. Januar. Den Katalog haben Kristina Jaspers und Wolf Unterberger beim Bertz + Fischer Verlag herausgeben, 176 Seiten, zahlr. Abb., 22,90 €