Empörte Ungarn

VON RALF LEONHARD

Nach den Ausschreitungen von Regierungsgegnern in der ungarischen Hauptstadt Budapest in der Nacht auf Dienstag hat der für die Polizei zuständige Justizminister Jószef Petrétei seinen Rücktritt angeboten. Dies Angebot aber wurde von Premierminister Ferenc Gyurcsány nicht angenommen. Auch er selbst denkt nicht an Rücktritt. Gyurcsány will keine weiteren Demonstrationen mehr zulassen und die Krise offensichtlich aussitzen.

Die Randale gipfelte in einem Sturm auf die staatliche Fernsehanstalt MTV. Einer Gruppe von Krawallmachern gelang es, in das schlecht bewachte Gebäude einzudringen und den Fernsehbetrieb mehr als eine Stunde zu unterbrechen. Auf Seiten der offenbar unzureichend vorbereiteten Sicherheitskräfte wurden 102 Verletzte gemeldet. Unter den Demonstranten sollen mindestens 50 Personen Blessuren abgekriegt haben.

Die von rechtsextremen Glatzenträgern angeführten Randalierer reagierten auf eine parteiinterne Rede von Premier Gyurcsány, von der eine Tonbandaufnahme am Wochenende an die Öffentlichkeit gelangt war. Darin gab der Regierungschef zu, das Volk systematisch belogen zu haben, um seine Wiederwahl zu sichern. Seit dem Wochenende lief die mit deftigen Worten gewürzte selbstkritische Rede des Premiers über alle Kanäle und entfachte Demonstrationen, an denen sich über 10.000 Menschen beteiligten. Nach einer Kundgebung im Zentrum von Budapest war am Montagabend ein Stoßtrupp vor das Funkhaus gezogen. Im Schein brennender Fahrzeuge rannte die Meute gegen das Rundfunkgebäude an. Nicht betroffen war der Privatsender TV2, der die Ausschreitungen live übertrug.

In der inzwischen berühmten Rede vor Funktionären seiner sozialdemokratischen MSZP hatte der Premier im vergangenen Mai zugegeben, dass das Wahlvolk jahrelang belogen worden sei: „In Europa hat man so eine Blödheit noch in keinem anderen Land gemacht, wie wir gemacht haben. Das kann man erklären. Wir haben offenbar die letzten eineinhalb, zwei Jahre durchgelogen.“ Gegenüber den Parteifreunden rechtfertigte er mit der Selbstentblößung ein bevorstehendes Sparpaket. Denn 16 Jahre lang hätte die politische Elite es verabsäumt, die nötigen Reformen anzugehen. Damit meinte er also nicht nur seinen eigenen sozialdemokratischen Vorgänger Péter Medgyessy, sondern auch die rechte Fidesz von Viktor Orbán, die die jüngsten Proteste angestachelt hat. Orbán hatte im Wahlkampf noch weit größere Wohltaten versprochen als Gyurcsány.

Der Premier zeigte sich in der Ansprache entschlossen, die längst fälligen Anpassungen für die wirtschaftliche EU-Reife anzugehen, auch wenn das bedeutete, demnächst abgewählt zu werden: „Was wäre mal, wenn wir nicht unsere Popularität verlieren, weil wir Arschlöcher zueinander sind, sondern weil wir große gesellschaftliche Dinge machen wollen?“

Ein erster Dämpfer für die Politik wird bei den bevorstehenden Kommunalwahlen am 1. Oktober erwartet. Dennoch scheint ein Großteil der Ungarn die ungewohnte Ehrlichkeit zu schätzen. Bei einer Blitzumfrage nach Veröffentlichung der brisanten Tonbänder sprachen sich nur 43 Prozent für einen sofortigen Rücktritt des Premiers aus. Das entspricht ungefähr dem Wähleranteil der oppositionellen Fidesz. 47 Prozent meinen dagegen, Gyurcsány solle im Amt bleiben.

Wer die Rede der Rundfunkanstalt zugespielt hat, ist unterdessen Gegenstand von Spekulationen. Es könnte ein parteiinterner Gegner gewesen sein – aber auch Gyurcsány selbst. Er könnte sich davon so etwas wie den Beginn eines Selbstreinigungsprozesses versprechen. Dafür spricht auch, dass er den vollen Wortlaut auf seinen Weblog gestellt hat. „Ich wollte die Spirale der Lüge durchbrechen“, erklärte er in mehreren Interviews nach Beginn der Proteste.