„Weimar ist weit weg“

FU-Politologe: Trotz vieler Protestwähler haben die großen Parteien nicht dauerhaft Unterstützung verloren

taz: Herr Niedermayer, sind Sie überrascht vom Votum der Berliner und Berlinerinnen?

Oskar Niedermayer: Im Prinzip nicht. Einzig die Linkspartei hat mehr verloren als erwartet.

Wurde sie für die rot-rote Koalition abgestraft?

Nicht nur. Es gibt noch andere Gründe für die Verluste. Zum einen passt die Wahl 2001 nicht als Vergleichsmaßstab. Damals hat die PDS überdurchschnittlich abgeschnitten, wegen des Krieges in Afghanistan und des Bankenskandals. Außerdem war Gregor Gysi Spitzenkandidat. Dieses Mal war der Spitzenkandidat weit weniger charismatisch. Außerdem war die PDS im Wahlkampf in landespolitischen Themen nicht genug präsent. Ein Teil der PDS-Klientel hat es zudem nicht goutiert, dass die Partei die Haushalts- und Sozialkürzungen relativ widerspruchslos mittrug.

Was haben die ehemaligen PDS-Anhänger gemacht?

Ein großer Teil ist vermutlich zu Hause geblieben und ein kleiner hat die WASG gewählt. Genaue Zahlen zum Wählerverhalten liegen erst in einer Woche vor.

Wie schätzen Sie das gute Abschneiden der Grünen ein?

Sie haben ein stabiles Wählerpotenzial in Berlin. Zudem haben sie einen geschickten Wahlkampf gemacht.

Wie?

In der heißen Phase hat man sich an die bürgerliche Wählerschicht gerichtet und versucht rüberbringen, dass die Grünen, von den Parteien, die eine halbwegs realistische Machtchance haben, noch die bürgerlichste ist. Das wurde von Wählern aus dem bürgerlichen Lager belohnt.

40 Prozent der Berliner haben nicht gewählt. Warum?

Für die Analyse sind die rational abwägenden Wähler und die protestierenden Nichtwähler von Interesse. Für Erstere spielt der Stellenwert einer Wahl eine Rolle. Und auch, ob der Wahlausgang schon im Vorhinein klar zu sein scheint. Dies und enttäuschte PDS-Wähler, die zu Hause geblieben sind, dürften Gründe für die niedrige Wahlbeteiligung sein.

Wie erklären Sie die vielen Stimmen für die Splitterparteien?

Neben Wahlabstinenz hat jemand, dem das Angebot der etablierten Parteien nicht passt, die Möglichkeit, eine Partei an den Rändern zu wählen. Bei dieser Wahl etwa die WASG oder NPD, was als starker Protest zu verstehen ist. Oder er wählt eine kleine, interessengruppenspezifische Partei: die Grauen, die Bildungspartei, die Frauen. Das muss als eine Art bürgerliche Protestwahl verstanden werden.

Wie schätzen Sie das Protestpotenzial dieser Wahl insgesamt ein?

Es ist relativ hoch. Aber man kann daraus nicht ableiten, dass die Demokratie in Gefahr ist oder die großen Parteien dauerhaft ihre Wähler verloren haben.

Was halten Sie von der These, dass das Wahlergebnis an die Parteienzersplitterung der Weimarer Republik erinnert?

Um Himmels Willen, bis wir in Weimar landen, muss noch sehr viel passieren.

INTERVIEW: WALTRAUD SCHWAB