Jede Akkordfolge ruft Großgefühl

Die gegenwärtig beste Band der Welt trat am Dienstagabend in Berlin auf: Mit Hot Chip haben die eklektizistischen Nullerjahre endlich eine Gruppe gefunden, die die Trackästhetik der elektronischen Musik mit dem Songwriting des Pop zu verbinden weiß

Hot Chip bewegen sich mit traumwandlerischer Sicherheit in dem Wissen, das sie über die Musik der Vergangenheit besitzen

VON TOBIAS RAPP

Wir leben in merkwürdigen Zeiten. Popmusikalisch gesprochen. Seit es Popmusik gibt, hat es zum Ende des Jahrzehnts immer einen Epochenwechsel gegeben. Das letzte Mal, zur Jahrtausendwende, blieb er allerdings aus. Ein paar Monate wunderte man sich noch, dann nahm man es achelzuckend zur Kenntnis: Das Ende der großen Klangerzählung passte schließlich zur Krise der Musikindustrie. Seitdem sind wieder einige Jahre ins Land gegangen, und blickt man zurück, so muss man feststellen: es gibt doch eine große Erzählung, sie bildet bloß kein Genre. Es ist die Durcharbeitung der immensen Archive, die sich aufgetan haben, seit Musik in das Zeitalter ihrer allgemeinen Downloadbarkeit eingetreten ist. Nun hat Musik immer mit Gefühl zu tun, dem Draht nach oben (oder nach unten). Doch alle großen Bands der letzten Jahre, von Air bis zu LCD Soundsystem, spielten in diesem Feld: im Versuch, durch das Zitat zum Ich zu kommen.

Es war reiner Zufall, dass die britische Band Hot Chip, als sie am vergangenen Dienstag im Berliner Lido auftrat, ausgerechnet zum Beginn der Popkomm spielte. Mit der Messe hatte ihr Konzert nichts zu tun. Doch es war ein passender Zufall, denn es gibt gegenwärtig keine Band, die so brillant wie originell geborgte Gefühle als ihre eigenen anerkennt – und nebenbei auch noch das große Technopop-Versprechen einlöst: die Trackästhetik der elektronischen Musik mit dem Songwriting des Pop zu verbinden. „The Warning“ heißt ihr aktuelles Album, eine Sammlung von elf wunderbar fragilen Elektropop-Songs, auf der jede Akkordfolge „Großgefühl“ ruft. Die Art des Gesangs und die Cleverness der Lyrics arbeiten dagegen, irgendwo ist immer eine Handbremse angezogen. Das ist Whiteboy-Shuffle!, sagt jemand. Geschenkt. So wie sich Hot Chip am Dienstag präsentierten, sind sie gegenwärtig die beste Band der Welt.

Noch vor einem Jahr kamen sie einem wie eine wildgewordene Nerd-Boygroup vor: fünf Jungs, die aussahen, als hätte ein verrückter Wissenschaftler bei dem Versuch, eine Boyband zu klonen, aus Versehen die falschen Zutaten benutzt und statt der fünf Schönlinge seien fünf Nerds den Reagenzgläsern entstiegen. Ein pickliger Frickler, ein rothaariger Schlacks, der gerne über seine Füße stolpert, ein Westentaschennapoleon, ein leicht übergewichtiger Indierocker und ein Gutaussehender – der aber aus lauter Rücksicht auf seine Bandkollegen sein Gesicht hinter einer riesigen Sonnenbrille versteckt hält. Ein Eindruck, der von großartig-linkischen Tanzbewegungen noch unterstrichen wurde.

Damit ist es nun vorbei. Die Band hat noch den gleichen Charme, entschuldigt sich so verschmitzt wie höflich für einen Auftritt im Februar, wo sie sich leider vor dem Konzert gestritten hätten, die Musiker tauschen auch immer noch die Instrumente zwischen den Stücken, springen herum und lachen sich während des Spielens an. Doch ihr Sound hat sich verändert: Aus „Boy From School“, der unschuldig vor sich hin swingenden Single, ist eine endlose Sinfonie geworden, die eine Funkgitarre als Trancefläche einsetzt, „Just (like we breakdown)“ hat sich aus lächelndem Electropop in minimalen Dub verwandelt, der unmerklich in technoides Geknarze übergeht, um schließlich in ein Rhythm-&-Blues-Gitarrensolo zu münden. Hier hat eine Band einen Sound gefunden, den sonst niemand spielt.

Joe Goddard (der Indie-Nerd) und Alexis Taylor (der Westentaschennapoleon) bilden den Kern von Hot Chip. Sie kennen sich, seit sie zwölf Jahre alt sind, sie sind zusammen in Westlondon zur Schule gegangen und haben seitdem alle prägenden Musikerfahrungen gemeinsam gemacht, Platten entdecken, zu Konzerten und in Clubs gehen. Und irgendwann, auf einer Mexikoreise, fingen sie an, gemeinsam Songs zu schreiben, Folksongs. Joe mit seinem Bariton, Alexis mit seinem Kirchenjungentenor und eine Klampfe. Das ist mittlerweile acht Jahre her, und weil Alexis zwischendrin ein Studium der englischen Literatur absolviert hat, schlief das Musikmachen zeitweilig ganz ein. Doch fragt man Joe heute nach dieser Mühelosigkeit, mit der Hot Chip die unterschiedlichsten Einflüsse absorbieren können, erzählt er genau dies: Alexis und er hätten die prägenden Jahre einfach gemeinsam durchlebt, wenn sie nun Musik machen würden, müssten sie sich nicht mal mehr unterhalten.

Tatsächlich kann man sich Goddard und Taylor auch als ein Duo vorstellen, das die lange Faszinationsgeschichte fortschreibt, die britische Bands zur Musik des schwarzen Amerika unterhalten – von den Rolling Stones oder Eric Burdon über die Northern-Soul-Begeisterung bei Postpunk-Gruppen wie The Jam und der Motown-Faszination bei Bands wie ABC oder Scritti Politti. Hot Chip arbeiten ganz ähnlich wie ihre Vorgänger: Sie lieben und umarmen das als authentisch empfundene Großgefühl und bauen es nach, nachdem sie die gospelgetriebene Leidenschaft ausgestrichen haben.

Man nehme etwa „Look After Me“, das zentrale Stück von „The Warning“: von Instrumentierung wie Akkordfolge ist es ein ziemlich ungeschminkter Nachbau von R. Kellys großem Endneunziger-Duett „Be Careful“ mit der Sängerin Sparkle. Der sexgetränkte Beziehungsstreit ist nur dem sanften Bedauern gewichen, dass sich viel Unglück hätte vermeiden lassen, wenn man ein wenig besser aufeinander aufgepasst hätte. Oder die wunderbar albernen Zeilen „Hot Chip will break your legs/ snap off your head“ aus „The Warning“: offensichtlich von den Prahlereien des Hiphop inspiriert, sind sie gleichzeitig Hommage wie liebevolle Aneignung, wenn Hot Chip sie singen, als kämen sie gerade aus der Sonntagsschule. Das alles wäre nun noch nichts Besonderes, hätten Goddard und Taylor nicht drei weitere Schulfreunde gebeten, bei Hot Chip einzusteigen – vor allem, um die Live-Präsenz zu verbessern. Die hörten allerdings bevorzugt deutschen Minimal House und Techno. Und veränderten so noch einmal den gesamten Bandsound. Bei ihrem Berliner Auftritt widmeten Hot Chip ein Stück dem Berliner House-Label Get Physical.

Indierock, Soul und Funk, Electrohouse und Techno: Wer bei dieser Kombination an James Murphy und seine Band LCD Soundsystem denken muss, liegt gar nicht so falsch. Doch anders als Murphy, der verzweifelt gegen seine Einflussangst anrennt und sich vor lauter coolem Wissen überhaupt nicht mehr in der Lage sieht, eine Aussage zu machen, die er selbst als sinnvoll empfindet (bei einem gleichzeitig heiß brennendem Bedürfnis genau danach), ist es bei Hot Chip genau anders herum. Vielleicht sind sie als End-Zwanzigjährige einfach die entscheidenden zehn Jahre jünger – doch sie bewegen sich mit traumwandlerischer Sicherheit in den Klängen der Archive und in dem Wissen, das sie über die Musik der Vergangenheit angehäuft haben. Als wäre diese Archivlandschaft heute die zweite Natur des Musikers.

Es ist eine Freude, den fünf dabei zuzusehen, wie sie die Klänge des Rhodes Piano mit einem knarzenden Basssynthesizer verbinden, eine Gitarre über einen Casio legen und neben dem Drumcomputer auf Bongos herumtrommeln. Pop ist Technomacht plus Soulgefühl. Besser wird’s nicht.

Hot Chip spielen heute in Mannheim, morgen in München