Fraktionen bekommen Flügel

Wenige Tage nach der Wahl bilden sich in den Fraktionen von PDS und Grünen die ersten Fronten – vor allem entlang der Frage, ob man mitregieren soll. Wer wird sich wo durchsetzen? Ein Vergleich

Der Fraktionschef weiß es nicht. Und die Fraktion weiß es auch nicht. Der Satz, sonst gerne als Floskel missbraucht, ist in diesem Fall ehrlich. „Es ist alles völlig offen“, sagt Stefan Liebich, der Vorsitzende der PDS-Fraktion, über seinen Wunsch, wieder in der Regierung zu sitzen. Der parlamentarische Arm der Partei schwankt zwischen dem Willen, zu gestalten – und dem, sich in der Opposition zu profilieren.

Die Stimmung ist gekippt. Kurz nach dem Wahlschock dachten die Genossen vor allem darüber nach, welche Wähler man warum verloren hat. „Wenn Sie am Sonntagabend eine Umfrage gemacht hätten, wären wir weg“, sagt ein Abgeordneter. Inzwischen, ungezählte Flurgespräche und eine Fraktionssitzung später, denken die Parlamentarier genau andersherum: was die wollen, die sie noch wählten.

„Jetzt nicht mit der SPD zu verhandeln, wäre zutiefst unpolitisch“, sagt Liebich, der gestern im ersten Sondierungsgespräch mit Klaus Wowereit zusammensaß. Der Abgeordnete Carl Wechselberg meint: „Die Bürger haben einen Anspruch darauf, dass wir ernsthaft prüfen, wie wir unsere Ziele durchsetzen können.“ So denkt die große Mehrheit der Fraktion. Angesichts der knappen Mehrheit, die Rot-Rot nur hätte, ist ihr Wort wichtig wie nie.

Entscheidend war die Fraktionssitzung, die am Dienstagabend endete. Mehr als vier Stunden lang wälzten die Genossen Argumente, warfen Fragen auf. Warum die Erfolge der PDS so untergingen, wie mehr Informationsrechte für Bürger und Abgeordnete. Warum man den Wählern nicht den Unterschied zwischen Bund und Land erklären konnte, wie bei Hartz IV. Warum die SPD aus vielen Streiten mit dem besseren Image herausging, wie bei den Schulbuchkosten – oder Ideen gleich schamlos klaute, wie Wowereit in seinem Versprechen der Kostenlos-Kita. Aber vor allem: Wie weiter? Während am Anfang ein paar Abgeordnete für sofortige Opposition plädierten – besonders die aus der Hochburg Marzahn-Hellersdorf –, machte sich dann Kampfeslust breit.

Dahinter steht auch der Wunsch, Rot-Grün zu verhindern. Bei der Privatisierung öffentlicher Betriebe lägen Grüne und PDS so weit auseinander, dass viele sich „echte Sorgen“ machten, sagt Liebich. Auch Wechselberg sagt: „Am Ende geht es um Inhalte.“ Die Grünen seien offen für Verkäufe, etwa eines Teils der BVG.

Der Frust ihrer Stammwähler hat die PDS bei den Verhandlungen in eine Zwangsjacke gepresst. „Kaum Spielraum“ sieht Wechselberg. „Ich möchte es gegenüber der Basis nicht rechtfertigen, noch einmal 40.000 Wohnungen zu verkaufen.“ Aus der Sicht von Klaus Wowereit ist das ein klares Manko, er will Rot-Rot nicht mit noch mehr PDS – allerdings könnte er in einer Regierung auf ihre berühmte Disziplin vertrauen.

Die zeigte sich gestern einmal mehr. Offene Kritik an der PDS-Führungsriege gibt es bisher nur in den Bezirksbüros. PDS-Fraktionschef Stefan Liebich brachte das Thema in der Fraktion selbst zur Sprache. Es sei natürlich, dass auch Personen diskutiert würden, sagt er. Und: Er klebe nicht an seinem Posten. „Ich empfände es aber als Flucht vor der Verantwortung, jetzt hinzuschmeißen.“ Man beschloss, den Vorstand im Amt zu lassen – und verschob die Neuwahl des Fraktionsvorstandes. Sie soll bis zum 17. Oktober über die Bühne gehen – in Ruhe, nach der Entscheidung. Zumal auf der Oppositionsbank auch noch Spitzenkandidat Harald Wolf mit einem Führungsposten versorgt werden müsste. Ein Vorstandsmitglied: „Wir wären ja wahnsinnig, wenn wir das während der Sondierung diskutieren würden.“

ULRICH SCHULTE

Endlich ist sie wie wieder da: die bei den Grünen so sympathische, aber in den vergangenen Jahren nur noch selten registrierte Streitkultur. Wenige Tage nach der Abgeordnetenhauswahl, bei der die Grünen mit 4 Prozentpunkten kräftig zulegen konnten, bilden sich innerhalb der erweiterten Fraktion die ersten Fronten.

Auslöser ist ein taz-Interview mit dem in Kreuzberg direkt gewählten Parlamentarier Dirk Behrendt. Er hatte gesagt, dass er für eine Fortsetzung rot-roter Politik mit rot-grünem Personal nicht zur Verfügung steht. Unter anderem kündigte Behrendt seinen Widerstand gegen den weiteren Verkauf von städtischen Wohnungen an. Behrendt gehört wie die meisten Kreuzberger Grünen zum linken Flügel des Landesverbands. „Wir sorgen dafür, dass an unserem gemeinsam beschlossenem Programm festgehalten wird“, sagte ein Kreuzberger Grüner. „Wenn die Spitze davon abweicht, ist sie die Abtrünnige.“

Behrendts Äußerungen hatten vor allem die Grünen-Spitze verärgert. Noch vor der ersten Fraktionssitzung der neuen Abgeordneten am Dienstag rief der Fraktionsvorsitzende Volker Ratzmann zu einer Krisensitzung ein, auf der über den Umgang mit möglichen „Abtrünnigen“ diskutiert wurde. Denn auch Ratzmann ist klar: Ein rot-grüner Senat könnte sich bloß auf eine Mehrheit von 2 Stimmen stützen.

Entsprechend hoch her ging es dann auch bei der Fraktionssitzung am Dienstagnachmittag. Grünen-Spitzenkandidatin Franziska Eichstädt-Bohlig kritisierte die „Einzelkämpfer“ und rief zur Geschlossenheit auf. Dass sie es war, die bereits einen Tag nach der Wahl über grüne Senatsposten sinniert hatte und damit die SPD-Verhandlungsführer noch vor dem ersten Sondierungsgespräch heute viel mehr verärgerte, kam nicht zur Sprache.

Ratzmann versucht nun, die ersten Richtungskämpfe zu entdramatisieren: Die Bedeutung der Kreuzberger Grünen mit ihren 5 Parlamentariern bleibe unbenommen. Zugleich müsse jedoch auch klar sein, dass im Falle einer Regierungsbeteiligung alle Abgeordneten die gemeinsamen Beschlüsse auch gemeinsam tragen müssten. Ratzmann: „Wir machen das zusammen und da gibt es keine Trennung von direkt gewählten Abgeordneten und den anderen.“

Dennoch: Ratzmanns Beschwichtigungen täuschen nicht darüber hinweg, dass sich die unterschiedlichen Strömungen längst formieren. Gestern trafen sich die neuen Jungparlamentarier; 3 dieser Abgeordneten kommen von der Grünen Jugend. Morgen will die Parteilinke gemeinsame Strategien ausloten. Treffen der so genannten „Realos“ um Spitzenkandidatin Eichstädt-Bohlig soll es ebenfalls geben – wenn auch nicht unter dieser Bezeichnung.

Da die Sondierungsgespräche mit der SPD erst heute beginnen, dreht sich bisher der Streit vor allem um die Deutungshoheit über den Wahlausgang. Eichstädt-Bohlig wird nicht müde zu betonen, dass ihr auf Stimmen des bürgerlichen Lagers ausgerichteter Wahlkampf den Grünen den Zuwachs beschert habe. Der linke Flügel sieht es genau umgekehrt: Erst die Rückbesinnung auf urgrüne Inhalte hätte den Grünen wieder die Stimmen beschert, die durch die siebenjährige rot-grüne Bundesregierung verloren gegangen seien.

Aktuell ausgewertete Wahlanalysen geben eher den Linken Recht. Gerade einmal 4.000 Stimmen wanderten laut einer Umfrage des Meinungsforscherinstitutes Infratest dimap von der FDP-Klientel zu den Grünen. Von der Linkspartei hingegen kamen 10.000 Wähler und von der SPD sogar 15.000.

FELIX LEE