Die oberen 10.000

Die Jungen ziehen weg, die Alten sterben aus. Was anderswo Gemeinden ruiniert und ganze Landstriche entvölkert, kommt dem Örtchen Wunsiedel sehr gelegen. In Zukunft will das fränkische Kleinstädtchen am demografischen Wandel genesen, indem es sich ganz auf die Zuwanderung älterer Menschen einrichtet

VON CLEMENS NIEDENTHAL

Herr Walter ist gekommen, um zu bleiben. Herr Walter hat bald nicht einmal mehr einen Koffer in Berlin, der Stadt, in der er 65 Jahre lang gelebt und 48 Jahre lang gearbeitet hat. Bei Siemens die meiste Zeit, erst am Band, später im Büro. Im Sommer 1973 sind er und seine Frau zum ersten Mal im Fichtelgebirge und in Wunsiedel gewesen. „Das waren für uns Westberliner ja die ersten Berge hinter der DDR.“ Im Winter 2005 haben sie erstmals überlegt, ihren Lebensmittelpunkt dorthin, in die Fränkische Schweiz, zu verlegen. Und dann sagt Herr Walter, der seinen Vornamen lieber nicht in der Zeitung lesen will, einen bemerkenswerten Satz: „In Berlin ist man kranker als in Wunsiedel, wenn man einmal krank ist.“

Dabei ist Wunsiedel, und da spricht die Demografie eine deutliche Sprache, selbst eine kranke Stadt. Kaum mehr als 10.000 Menschen leben noch in der ehemaligen Industriegemeinde zwischen Hof, Bayreuth und der Grenze zu Tschechien, jährlich werden es weniger. Mit einem Bevölkerungsrückgang von mehr als 12 Prozent erreicht der Landkreis Wunsiedel längst Werte, wie sie sonst aus Vorpommern oder der Uckermark vermeldet werden. Drastische Zahlen, nicht nur auf dem Papier. Auch in den Stadtraum haben sie sich eingeschrieben: Klingelschilder ohne Namen, Schaufenster ohne Auslagen, nur hin und wieder hat ein Immobilienmakler seine Telefonnummer ausgehängt.

Kreativer Umgang mit der Statistik

Textilindustrie, Porzellanmanufakturen, das alles gab es einmal und gibt es fast nicht mehr. Auch der 17-jährige Marc, der ein wenig ziellos mit seinem Mountainbike über den Marktplatz kurvt, wird in ein, zwei Jahren ein Teil dieser Statistik werden. „Am besten gleich nach München“ will er nach dem Fachabi verschwinden. Lieber einmal ganz weg, als jeden Morgen aufs Neue aufbrechen: Jahrelang sei seine Mutter täglich ins 140 Kilometer entfernte Fürth gependelt, nachdem sie ihre Anstellung in einer Trikotagenfabrik verloren hatte. Etwa 1.000 Arbeitsplätze alleine in der Bekleidungsbranche hatte der Ort mit den Jahren eingebüßt.

Eine solche Landflucht hat ihren Preis. Im Jahr 2020, so prognostiziert eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, wird jeder vierte Wunsiedler und jede vierte Wunsiedlerin älter als 60 Jahre sein. Vielleicht auch schon ein paar Jahre früher, wenn es nach Bürgermeister Karl-Willi Beck ginge. Wobei der CSU-Mann mit dem Ferienbauernhof keineswegs die Jungen aus dem Ort jagen will. Beck wirbt vielmehr um die Alten. Und dies mit zuweilen recht eindrücklichen Gesten. „Greisstadt Wunsiedel“ hat er die Kreisstadt Wunsiedel schon einmal genannt. Was der Lokalpolitiker mit dem aus seinen Initialen abgeleiteten Slogan „Kann was bewegen“ nicht im Mindesten ironisch meint. Allenfalls ein wenig trotzig, weil er nicht wie seine Amtskollegen aus dem Speckgürtel der bayrischen Landeshauptstadt mit neuen, innovativen Gewerbeansiedlungen glänzen kann.

lnnovativer Umgang mit dem Alter

Innovativ ist in Wunsiedel deshalb gerade der Umgang mit dem Alter, der Umgang mit den Alten. Genauer gesagt: Innovativ ist die Bereitschaft, Alterungsprozesse und demografischen Wandel als Gesellschaftsmodell zu akzeptieren und sie sich nebenbei als Geschäftsmodell nutzbar zu machen. Wunsiedel will wieder wachsen – gemeinsam mit den Sechzig-, Siebzig- und Achtzigjährigen.

Die Anregungen dazu sollen auch und gerade aus dem eigens eingerichteten Seniorenparlament kommen – so etwa die Idee, die Bordsteinkanten der zentralen Geschäftsstraßen rollstuhl- und gehwagengerecht abzusenken. Als die städtischen Arbeiter damit im Frühjahr begonnen hatten, haben sogar die Kameras des Bayrischen Rundfunks zugeschaut. Heute lässt eine junge Mutter ihren Buggy über die kaum mehr vorhandene Kante gleiten. Ob sie ahnt, dass eine solche Erleichterung kaum ihr gegolten hat?

Um Missverständnissen vorzubeugen: Der Ort verkauft sich keineswegs als Dorado ewiger Jugend und Glückseligkeit. Franken ist nicht Florida und Wunsiedel kein deutsches Sun City. In den wenigen Kurkliniken des nahen Bad Alexandersbad kann man sich ohnehin nicht liften lassen. Auch ist kein neuer Golfplatz geplant und keine schicke Wellness-Oase. Stattdessen gewähren örtliche Ferienwohnungen „Dialysepatienten einen Rabatt von zehn Prozent“. Stattdessen gibt es Seniorentanz und Seniorenteller. Und einen Shuttle-Service zu den Sehenswürdigkeiten und Ausflugszielen der Region. Kleine Busse mit beigen Passagieren.

Davon, „in Würde alt zu werden“, spricht denn auch Dieter Schimkus, Diakon im Seniorenstift St. Elisabeth. Nicht von den oftmals würdelosen Verrenkungen Harley-fahrender Großväter und Gucci-tragender Großmütter. Er spricht nicht davon, die Zeit anzuhalten – sondern davon, die Zeit zu akzeptieren. „Ich bin gern in dir geboren, du kleine, aber gute, lichte Stadt“, hat der Dichter Jean Paul, jener berühmte Wunsiedler, einmal gesagt. Andere nun möchten hier vielleicht sterben. Und zuvor noch ein paar glückliche Jahre haben.

So wird ein wunderschöner Septemberabend zur symbolischen Illustration dieser Wunsiedler Idee: ein Herbst, der noch einmal zum Sommer wird. Dazu Bratwurst, Sauerkraut und Sonnenuntergang in einem Biergarten vor den Toren des Ortes. Am Nachbartisch debattieren zwei, ob es sich denn wirklich lohnt, jedes Mal zum Tanken nach Tschechien zu fahren. Eine Region auf der Suche nach einer neuen Identität, für die gerade die Krise die Rahmenbedingungen liefert. Leerstand, günstige Immobilien, eine Gastronomie, deren Preise bodenständig geblieben sind – neben der pittoresken Kulisse und der nachbarschaftlichen Beschaulichkeit sind das die Pfunde, mit denen Wunsiedel wirbt und wuchert. Großspurige Subventionen, so erzählt man nebenan im Landratsamt, habe man im Rathaus ohnehin nicht zu vergeben.

Das Seniorenstift St. Elisabeth steht exemplarisch für diese Entwicklung. Eigentlich war das Haus mit den 88 Betten einmal eine Rehabilitationsklinik. Doch mit den Jahren haben die Patientenzahlen genauso kontinuierlich nachgelassen wie die touristischen Besucher. Tagesgäste sind es inzwischen zum überwiegenden Teil, immer dann, wenn Wunsiedel mit seiner Naturbühne in den Sommermonaten zur Festspielstadt wird. Tschechows „Die Möwe“ wurde in dieser Saison unter anderem gegeben, Goethes „Faust“ ist es im kommenden Jahr.

Weil es also an Patienten fehlte, ist aus der ehemaligen Reha-Klinik im Stadtzentrum nun ein Seniorenheim geworden, betrieben vom Deutschen Orden. Dort versteht man es, den neu entdeckten Liebreiz der Kleinstadt schon auf der Homepage auszustellen: „Beschaulichkeit ist wieder in, ist zum Inbegriff der Wünsche vieler Menschen unserer Zeit geworden. Hier finden Sie Erholung und Entspannung inmitten einer intakten Umwelt.“

Der Beschaulichkeit wegen sind auch Herr und Frau Walter immer wieder nach Wunsiedel gekommen. Wenngleich sie schon einmal in Italien Urlaub gemacht haben oder in der Türkei. Um den Kindern und sicher auch sich selbst etwas zu bieten. Als Alterssitz aber haben sich die beiden ganz bewusst für das Fichtelgebirge entschieden, diese idealtypische deutsche Landschaft mit den sanft wogenden Hügeln und den schroffen Granitfelsen, die immer ein wenig an eine Modelleisenbahnwelt erinnern. Was für den Sommerurlaub längst zu bieder, zu gewöhnlich, ja zu alltäglich geworden ist, scheint für das alltägliche Älterwerden gerade recht.

„Das Leben in der Großstadt macht auf Dauer etwas müde“, sagt Frau Walter und meint damit wahrscheinlich auch das: In Wunsiedel, der Stadt mit den Seniorentellern und den abgesenkten Bordsteinkanten, ist es okay, irgendwann ein bisschen schläfrig zu sein. Auch wenn sich die Walters damit noch Zeit lassen wollen. Gerade erst haben sie einen Fahrradträger gekauft. Für ihren Škoda, der im Frühjahr ein neues Nummernschild bekommen wird.

„WUN“ wird darauf stehen – noch so eine ausbaufähige Verheißung für die nächsten Jahre.