Durchgeknallter Realismus

Die Konsistenz der Träume, die Kontingenz des Träumens: Michel Gondrys hinreißender Film „Science of Sleep – Anleitung zum Träumen“ schaut Gael García Bernal und Charlotte Gainsbourg dabei zu, wie sie zwischen Wirklichkeit und Fantasie pendeln

von ANDREAS BUSCHE

Ein paar beliebige Gedanken. Ein wenig Nachklang vom Tag. Einige Erinnerungen an die Vergangenheit. Noch etwas Liebe, Freundschaften, Partnerschaften und zum Abschmecken die Lieder des Tages. Das Ganze umrühren und fertig ist er: der perfekte Traum. So einfach wie Kuchenbacken geht die Traumproduktion in Michel Gondrys drittem Spielfilm „Science of Sleep – Anleitung zum Träumen“, seiner ersten Regiearbeit, ohne dass ihm Drehbuchautor und Mastermind Charlie Kaufman zur Seite gestanden hätte. In seinem imaginären Fernsehstudio aus Pappmaschee wird der junge Stéphane (Gael García Bernal) zum Traumkoch und Master of Ceremony. Im Hintergrund flimmert ein altes Super-8-Home-Movie aus der Kindheit, und nebenan befindet sich eine Blue Box. Die Box erfüllt eine ähnliche Funktion wie die Kriechgänge in Spike Jonzes „Being John Malkovich“: Durch sie betritt man das Schlafzentrum und gelangt so direkt in die Träume, die man gerade noch zubereitet hat. Stéphane ist teilnehmender Beobachter seiner eigenen, lebhaften Fantasie.

Um die Konsistenz von Träumen und die Kontingenz des Träumens geht es in „Science of Sleep“. Die Membran zwischen Realität und Fantasie ist dünn; sie trennt auch unterschiedliche Aggregatzustände voneinander: Bei Gondry sind die überbordenden Gefühlswelten seiner Figuren in eine krude Stofflichkeit übergegangen (Filz, Pappe, Cellophan), während die Realität sich langsam in Wunschbilder verflüchtigt. Stéphane und Stéphanie (Charlotte Gainsbourg) sind Nachbarn und irgendwie ineinander verknallt. Das heißt, erst einmal verguckt sich Stéphane in Stéphanies Freundin Zoe. Das Gefühlschaos in Gondrys zwangspubertärem Spielzimmer ist von Beginn an überwältigend.

„Science of Sleep“ ist ein großer, schöner und entwaffnend naiver Gegenentwurf zu Gondrys letztem Film „Vergiss mein nicht!“, der noch dem bekannten Determinismus der Romantic Comedy US-amerikanischer Prägung anhing. Das Happy End war, entgegen allen Widrigkeiten, unausweichlich. Dem leidigen Absolutheitsanspruch der Romantic Comedy auf tragfähige Liebesmodelle hält Gondry nun konzeptionelle Verwirrung und eine Art poetischen Terrorismus entgegen – „Katastrophologie“ heißt das im Film. „Science of Sleep“ verweigert sich klaren Bekenntnissen und der habituellen Selbstvergewisserung, die das Prinzip der Paarbildung im Kino meistens mit sich bringt. Die so geschaffenen Freiräume ähneln den Temporären Autonomen Zonen des Anarcho-Hippies Hakim Bey und wurden von Gondry und seinem Heimwerker-Workshop mit fantastisch-spleenigen Details ausgestattet. In diese Räume – Metropolis-artige Städte aus Toilettenpapierrollen, wattige Winterlandschaften, das mit Eierkartons ausstaffierte Fernsehstudio – zieht Stéphane sich immer dann zurück, wenn seine Umwelt ihn wieder mal überfordert.

Bernal und Gainsbourg sind hinreißend als leicht entrückte Tagträumer, ohne Plan oder feste Bestimmung, aber voll unartikulierter Sehnsüchte. In der Art zum Beispiel, wie sich García Bernal durchs Haar fährt, wenn er nervös ist, und wie Gainsbourg bei jedem unsicheren Lächeln ihre süßen Mäusezähne zeigt. „Meine Gefühle sind pathologisch“, sagt Bernal einmal, „und mit Pathologie kann man niemanden verführen.“ Um ihr Artikulationsproblem zu überwinden, müssen Stéphane und Stéphanie erst lernen, auf andere Art zu kommunizieren: über ihre Träume, über kindliche Fantastereien und die gemeinsamen Bastelarbeiten wie das Spielzeugpferd Golden the Pony Boy, das als wackelige Stop-Motion-Animation mühelos zwischen den Realitäten wechseln kann, später sogar zwischen den Fantasiewelten der beiden Träumer. Doch diese harmonische Übereinkunft lässt sich nicht ohne weiteres auf das Leben draußen übertragen, und je mehr Stéphane sich in seinen Träumen verliert, desto unzuverlässiger wird seine Realitätswahrnehmung.

Ohne Kaufman an seiner Seite hat Gondry mit „Science of Sleep“ zu einer unverdorbenen – das heißt: präpostmodernen – Form der Bildproduktion gefunden, das gilt für die kinematografischen wie auch für die Wunschbilder. Gondry sucht einen unmittelbaren Zugang zum Geschehen, das sich unserem Zugriff eigentlich entzieht. So einfach, wie es sich im Film darstellt (wie Kuchenbacken eben), soll möglichst auch das richtige Leben funktionieren. Folgerichtig ist deshalb Gondrys Entscheidung, „Science of Sleep“ teilweise in seinem alten Elternhaus in Paris zu drehen, ganz nah dran an den Kindheitserinnerungen, die auch seinen Film heimsuchen. Dieser Wunsch nach Kontrolle und Übersichtlichkeit ist ein roter Faden, der sich durch den ganzen Film zieht. Glücklicherweise hat Gondry dabei den deterministischen Tendenzen von „Vergiss mein nicht!“ völlig entsagt. Es gibt kein Grundrecht auf persönliches Liebesglück mehr, nur noch auf vereinzelte Glücksmomente. Den eigenen Träumen ist genauso wenig zu trauen wie unseren Gefühlen.

Gondry versucht eine gewagte Gratwanderung zwischen staunendem Kitsch à la „Amelie“ und märchenhaftem Eskapismus, ohne dass der Film je in seinen animierten Sentimentalitätsszenarios schwelgen würde. Das Happy End bleibt eine Möglichkeit unter vielen, da mag man sich noch so abstrampeln – Beziehungen sind harte Arbeit, das zeigt Gondry unmissverständlich. Das Schöne an seinen Methoden ist, dass sie ihn trotz allem nicht zum abgeklärten Zyniker abstempeln, sondern im Gegenteil den durchgeknallten Realisten zum Vorschein bringen.

„Science of Sleep – Anleitung zum Träumen“, Regie: Michel Gondry, mit Gael García Bernal, Charlotte Gainsbourgh u. a., Frankreich 2005, 105 Min.