mail aus manila
: Alle Schützen entkommen unerkannt

Politisch motivierte Morde haben auf den Philippinen Ausmaße wie zu Zeiten des Kriegsrechts angenommen

Vigan ist die am besten erhaltene spanische Kolonialstadt in den Philippinen, eine Art asiatisches Rothenburg ob der Tauber. In der Hauptstadt Manila ist die im spanischen Stil errichtete Innenstadt im Zweiten Weltkrieg komplett zerstört und anschließend nicht wieder aufgebaut worden. Aber in Vigan hat sich in der Unesco-geschützten Altstadt seit dem 17. Jahrhundert nicht mehr viel verändert. Kutscher dösen in ihren Kaleschen, den reich dekorierten Pferdekutschen, bis sie ein Fahrgast aus dem Halbschlaf reißt. Ein paar Kinder spielen auf der Straße. In den Geschäften gibt es handgewebte Hemden und Strohhüte, und um neun Uhr werden die Bürgersteige hochgeklappt. Ein perfektes Touristenidyll, wenn auch fast frei von Touristen.

Am Südende der Altstadt liegt die Residenz der Crisologos, eines Familienclans, der in der Provinz Ilocos Norte, in der Vigan liegt, fast drei Jahrzehnte politisch und wirtschaftlich regierte. Das Haus war mal feudal. Heute hat es den etwas gammeligen Charme, den Holzhäuser annehmen, wenn sie lange der tropischen Witterung ausgesetzt sind. Im halbdunklen Inneren stauben handgeschnitzte Möbel aus tropischem Narra-Holz mit Sitzflächen aus Rattan vor sich hin. Im Wohnzimmer im zweiten Stock gibt es eine lange Reihe hölzerner Santos (Heiligenfiguren), Ming-Vasen und eine Sammlung philippinischer Ternos, den Schmetterlingskleidern, die Imelda Marcos einst international bekannt gemacht hat. Ein Museumswächter döst in dem riesigen Speisesaal, in dem einst die Großfamilie dinierte.

Noch ein Idyll. Aber hier wird es gestört von den staubigen Bildern, die im Wohnzimmer an der Wand hängen. Sie zeigen den Familienpatriarchen Floro Crisologo, wie er in der historischen Kathedrale von Vigan tot in einer riesigen Lache Blut liegt. Beim sonntäglichen Kirchenbesuch mit der Familie wurde der Kongressabgeordnete 1970 erschossen – von einem Schützen, der unerkannt entkommen konnte. Es war das Ende der Macht des Crisologo-Clans und der Beginn der Ära von Chavit Singson, einem Neffen von Floro Crisologo.

Der Mord wurde nie aufgeklärt – wie so viele in der blutigen Geschichte der Philippinen. Aber bis heute zweifelt niemand ernsthaft daran, dass Chavit Singson hinter dem Anschlag steckte, einem Mord in klassischer Mafiamanier. Singson wollte die Geschäfte seines Onkels übernehmen, der sich in den 50er- und 60er-Jahren schamlos auf Kosten der Tabakbauern bereichert hatte. Seine Privatarmee kontrollierte die Straßen der Provinz, kassierte eine private Steuer und sorgte dafür, dass Tabak nur in dem Betrieb der Crisologos getrocknet und weiterverarbeitet wurde. Alles geplant in der hübschen alten Familienresidenz am Rande der Altstadt von Vigan.

In den Philippinen wird ökonomische schnell zu politischer Macht. Wahlen gewinnt hier bis heute derjenige, der der Bevölkerung die meisten Wahlgeschenke machen kann oder wer die meisten Wahlleiter besticht. Crisologos Frau wurde 1963 Provinzgouverneurin, er selbst ließ sich in den Kongress wählen, wo er politisch die Strippen zu seinem Vorteil zog – bis zu seinem gewaltsamen Tod 1970.

Einige Monate nach dem Mord an Crisologo begann die Ära Singson, die bis heute andauert: Chavit Singsons Bruder wurde zum Bürgermeister von Vigan gewählt, er selbst zum Gouverneur von Ilocos Norte. Bis heute sitzt er im Kongress. Auch er lässt sich in seinem Anwesen, das in Vigan Baluarte (das Fort) heißt, von einer Privatarmee beschützen und gilt als mehrfacher Dollarmillionär.

In den letzten Monaten sind die Philippinen immer wieder von internationalen Menschenrechtsgruppen wie amnesty international kritisiert worden, weil die Morde an oppositionellen Politikern und kritischen Journalisten wieder Ausmaße angenommen haben wie zur Zeit des Kriegsrechts unter dem Diktator Marcos. Kommunistische Politiker oder unliebsame Berichterstatter werden fast wöchentlich auf dem Weg zur Arbeit oder beim Mittagessen erschossen – meist von Schützen, die auf Motorrädern vorbeifahren und seltsamerweise immer unerkannt entkommen. Die Philippinen gelten inzwischen nach dem Irak als das weltweit zweitgefährlichste Land für Journalisten.

Viele Oppositionelle machen die Armee und sogar die Regierung dafür verantwortlich, die gerade wieder einmal versucht, die kommunistische Guerillaarmee New Peoples Army zu eliminieren. Daran mag etwas sein. Aber auf den Philippinen muss man kein kommunistischer Untergrundkämpfer sein, um Opfer eines Mordanschlags zu werden. Es genügt, wenn man einen der vielen Provinzfürsten und lokalen Machthaber gegen sich aufbringt.

In Vigan wurde im vergangenen Jahr der Radioreporter und Politiker Efren Rafanan Opfer eines Attentats. Er selbst überlebte den Anschlag, seine Frau, sein Sohn, sein Bruder und sein Leibwächter kamen ums Leben. Die Morde sind bis heute unaufgeklärt. So wie die 800 anderen Morde an Journalisten, Gewerkschaftsführern, Oppositionspolitikern und Aktivisten, die seit 2001, seit dem Amtsantritt der Präsidentin Gloria Arroyo, verübt wurden. Wer auf den Philippinen nicht an der Straßenecke erschossen werden oder den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen möchte, kümmert sich immer noch am besten um seine eigenen Angelegenheiten. Auch und gerade in so schönen und verträumten Städtchen wie Vigan. TILMAN BAUMGÄRTEL