Noch nicht im Lot

Zum Tag des Flüchtlings: Das deutsche Asylverfahren erreicht die internationalen Standards nicht. Das UN-Flüchtlingskommissariat sagt, wo die Mängel liegen

Wer zur Abschiebunginhaftiert wird, muss sogar auf Rechtsschutz verzichten

Eigentlich klingt es selbstverständlich, zumal heute, am Tag des Flüchtlings: Die Genfer Flüchtlingskonvention – die Magna Charta des internationalen Flüchtlingsrechts – gehört in den Mittelpunkt des deutschen Asylverfahrens. Das Zuwanderungsgesetz hatte hierzu durchaus wichtige Voraussetzungen geschaffen. Bei dessen Anwendung in der Praxis hat sich jedoch mittlerweile gezeigt: Beim Flüchtlingsschutz muss entgegen ursprünglicher Hoffnungen in einigen wichtigen Punkten nachgebessert werden.

Dies gilt vor allem auch für die Frage, welche Kriterien als Grundlage für eine Anerkennung als Flüchtling herangezogen werden. Wem zum Beispiel wegen der öffentlichen Ausübung seines Glaubens in seiner Heimat Verfolgung droht, hat bislang in Deutschland nur sehr begrenzte Chancen, als Flüchtling anerkannt zu werden. Das gängige Argument, an dem Angehörige religiöser Minderheiten im deutschen Asylverfahren regelmäßig scheitern: Man könne seinem Glauben schließlich auch privat nachgehen. Erst wenn nachgewiesen werden kann, dass ein Eingriff in dieses sogenannte „religiöse Existenzminimum“ droht, greift hierzulande der Flüchtlingsschutz.

Auch bei der formalen Beurteilung der im Zuwanderungsgesetz ausdrücklich erwähnten sogenannten nichtstaatlichen Verfolgung gibt es bislang noch Defizite. So wurde beispielsweise Opfern häuslicher oder geschlechtsspezifischer Gewalt zuweilen eine Anerkennung als Flüchtling verwehrt. Begründung: Familienangehörige oder Privatpersonen erreichten nicht die „Qualität“ eines nichtstaatlichen Verfolgers.

Die aktuelle gute Nachricht: Das Bundesverwaltungsgericht hat in einer jüngst veröffentlichten Entscheidung klargestellt, dass die bislang erfolgten Einschränkungen bei der nichtstaatlichen Verfolgung unzulässig seien. Wir hoffen, dass die angesprochenen Defizite damit überwunden sind. In der Asylpraxis muss ankommen, dass auch Einzelpersonen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention die Urheber nichtstaatlicher Verfolgung sein können.

Dennoch ist nur unzureichend in der deutschen Asylpraxis angekommen: Im Zentrum der Genfer Flüchtlingskonvention steht die individuelle, wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. In Deutschland hingegen lautet die primäre Fragestellung, welche Gründe gegen eine Abschiebung sprechen.

Ein Blick ins Gesetz macht dies augenfällig: Wer im Aufenthaltsgesetz die Vorschriften sucht, in denen die Voraussetzungen für eine Flüchtlingsanerkennung geregelt sind, landet bei einem großen Kapitel mit der Überschrift „Beendigung des Aufenthalts“. Will man sich im Detail informieren, aus welchen Gründen Schutzansprüche entstehen, gibt der Paragraf zum „Verbot der Abschiebung“ Auskunft. Was fehlt, ist jedoch ein positiv besetzter Flüchtlingsstatus. Die Anwendung des Abkommens erfordert deshalb letzten Endes eine neue Prüfungsstruktur für das Anerkennungsverfahren, in deren Mittelpunkt die Frage nach dem Schutz des Einzelnen rückt.

Demnächst wird im Bundestag ein über 250 Seiten starkes Gesetzespaket zur Umsetzung von EU-Asylrichtlinien behandelt. Die Gelegenheit ist also da, einen Kurswechsel in diesem Sinne zu vollziehen. Freilich schlummern in dieser voluminösen Vorlage auch Vorschläge, die kaum für einen verbesserten Flüchtlingsschutz sprechen.

So sind beispielsweise Verschärfungen beim Familiennachzug von Flüchtlingen vorgesehen. Ausschlaggebend hierfür sollen fortan das Alter der Ehepartner und Deutschkenntnisse sein. Eine solche Regelung verkennt schlicht das besondere Schutzbedürfnis von Flüchtlingen und deren Familienangehörigen.

Der Widerspruch liegt auf der Hand: Jemandem wird bescheinigt, in seiner Heimat verfolgt zu sein. Soll seine potenziell ebenfalls gefährdete Familie zukünftig erst nachkommen dürfen, wenn sie deutsch spricht oder der Ehepartner ein bestimmtes Alter erreicht hat? Vielleicht ist es dann zu spät. Das kann niemand wollen.

Verbessert werden muss laut EU-Vorgabe der individuelle Abschiebungsschutz für jene Schutzsuchenden, die vor Krieg und Bürgerkrieg in ihrem Heimatland fliehen. Nach derzeitigem Stand soll jedoch bei der Umsetzung in deutsches Recht weiterhin gelten, dass eine allgemeine Gefahrensituation keinen individuellen Abschiebungsschutz rechtfertigt. Und: Selbst wer diesen sogenannten subsidiären Schutz erhält, dem bleiben weiterhin Integrationschancen versagt.

Denn wesentliche Rechte werden den Betroffenen weitgehend vorenthalten: Dauer des Aufenthalts, Familiennachzug, Zugang zum Arbeitsmarkt – eine Einschränkung folgt der anderen. Dabei handelt es sich um Menschen, die mit Blick auf ihr Schutzbedürfnis kaum von religiös, politisch oder ethnisch Verfolgten zu unterscheiden sind.

Es wäre deshalb nur konsequent, ihnen auch einen Rechtsstatus einzuräumen, der jenem von anerkannten Flüchtlingen zumindest ähnlich ist. Sie könnten so ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen – ein Ergebnis, dass beiden Seiten hilft: den Betroffenen selbst und Deutschland als Aufnahmeland.

Ein weiteres Problem betrifft ein Kernstück der europäischen Asylharmonisierung: die Klärung der Frage, welcher Mitgliedstaat einen Asylantrag inhaltlich prüfen soll. Auf EU-Ebene wurde eine entsprechende Regelung getroffen. Zum Nachteil der Betroffenen sieht der Gesetzentwurf erhebliche Veränderungen bei der Umsetzung dieser sogenannten Dublin-II-Verordnung vor.

In Deutschland interessiert nicht der Grund der Verfolgung, sondern der Grund für die Abschiebung

Zukünftig soll an der Grenze lediglich aufgrund von „Anhaltspunkten“ entschieden werden, ob ein anderer Staat für das Asylverfahren eines Antragstellers zuständig ist. Das hierfür eigentlich vorgesehene Verfahren muss von dem Grenzbeamten nicht abgewartet werden. Und humanitäre Schutzklauseln, wie sie das Dublin-System zu Gunsten von Familien und unbegleiteten Minderjährigen vorsieht, werden damit aller Voraussicht nach unter den Tisch fallen.

Zudem: Falls die Betroffenen nicht direkt zurückgeschoben werden können, droht ihnen die Inhaftierung. Noch bedenklicher ist die Tatsache, dass den Betroffenen in dieser Situation ein einstweiliger Rechtsschutz verwehrt bleibt. Ihnen wird so die in Dublin II ausdrücklich gewährte Möglichkeit genommen, gegebenenfalls rechtlich klären zu lassen, ob ihnen – zum Beispiel aufgrund familiärer Aspekte – nicht doch ein Prüfungsverfahren in Deutschland zusteht.

Es ist offensichtlich: Hier droht in der Praxis eine Schutzlücke, die mit dem Eigenanspruch, hohe Standards des Flüchtlingsschutzes einzuhalten, kaum in Einklang zu bringen ist. Genügend Diskussionsstoff also für die bald anstehende parlamentarische Debatte. Genügend Zeit auch, um die Dinge ins Lot zu bringen – im Sinne eines Flüchtlingsschutzes, der zu den Grundwerten der Europäischen Union gehört.

GOTTFRIED KÖFNER