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: Identitätsfragen

Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Die Verfassung? Oder eine christlich-abendländische Tradition? Die Frage nach einer für alle verbindlichen „Leitkultur“ findet immer dann Gehör, wenn sich die Mehrheitsgesellschaft mit abweichenden moralischen und religiösen Vorstellungen auseinandersetzen muss. Nachdem in Berlin eine Oper wegen möglicher muslimischer Anfeindungen abgesetzt worden ist, ist das Interesse an einer neuen Identitätsdebatte groß.

Der Saal ist voll, als der Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) das von ihm herausgebene Buch „Verfassung, Patriotismus, Leitkultur“ vorstellt. In dem Mitte Oktober erscheinenden Band machen sich 42 Menschen aus Deutschland mit und ohne Migrationshintergrund Gedanken über verbindliche Werte. Lammert hat Politiker, Kulturschaffende, Wirtschaftsleute und Gläubige nach den Grundlagen der Gesellschaft gefragt. Und nähert sich dabei des umstrittenen Begriffs der „Leitkultur“ an.

Lammert stellt das Buch gemeinsam mit der türkischstämmigen Rechtanwältin Seyran Ates und Adolf Muschg vor, dem früheren Präsidenten der Akademie der Künste. Ates betont, sie habe als Einwanderin kein Problem mit dem Wort „Leitkultur“ – solange sie daran mitwirken könne. Sich selbst bezeichnet die Anwältin als „Verfassungspatriotin“, eine Einstellung, die sie auch von ihren Landsleuten fordere. Ates bedauert, dass viele Zuwanderer den eigentlich nützlichen Begriff „Leitkultur“ als Assimilationsforderung missverstünden. Als die Diskussion droht in eine verfassungsdemokratische Lehrstunde abzugleiten, bringt Muschg die Absetzung von „Idomeneo“ ins Spiel und mutmaßt, dass die meisten Muslime auch gegen den abgeschnittenen Kopf von Jesus protestieren würden. Ein Raunen geht durchs Publikum.

Seyran Ates wehrt sich gegen die gutmenschendelnde Unterstellung. „Es gibt Muslime, die durchaus dazu bereit sind, anderen Göttern den Kopf abzuschlagen“, sagt sie mit Bezug auf die zerstörten Buddha-Statuen in Afghanistan und fordert, den „unsäglichen vorauseilenden Gehorsam“ gegenüber dem radikalen Islam einzustellen. „Warum wird es in Deutschland als rassistisch empfunden, wenn jemand die Realität abbildet?“, fragt Ates in die Runde und meint damit die verschobene Ausstrahlung des ARD-Films „Wut“ über türkische Gewalttäter. Damit ist die „Leitkultur“-Debatte auf dem Podium näher an die Tagesaktualität gerückt als die meisten Beiträge im Buch. NINA APIN