Das Licht geht an, das Lied beginnt

Die bezauberndsten Einladungen zur Indienbegeisterung kommen aus Bollywood. Zum Schwerpunkt der Buchmesse sind ein Kitsch- und ein Aufstiegsroman sowie eine Monumentalreportage erschienen, die von der indischen Filmindustrie handeln

Fünf Minuten vor Ende des Films werden in Indiens Kinos die Türen geöffnet. Deswegen enden viele Filme auch mit einem Lied

VON SUSANNE MESSMER

Das erste Mal von Bollywood hören konnte man in Deutschland vermutlich Anfang der Neunzigerjahre: Von ein paar indischen Mitschülerinnen etwa, die es pro Abend locker schafften, sich drei dieser kommerziellen, hindusprachigen Filme aus Bombay einverleiben – und das, obwohl jeder dieser Filme länger ist als drei Stunden. Ende der Neunziger war es dann, als man hin und wieder auch ein paar Cineasten von Bollywood raunen hörte. Von der größten Filmindustrie der Welt noch vor Hollywood war da die Rede, von einer eigenwilligen Kunstgattung mit beträchtlicher ästhetischer Stabilität – langatmigen Liebesfilmen voll expressiver Tanzeinlagen und viel Gesinge, die sich der westlichen Logik verschließen und gerade deshalb faszinierend seien.

Die Tage, in denen Bollywood ein Geheimtipp war, sind mittlerweile vorbei. In der Filmbranche wird spekuliert, Bollywood könnte nach Hongkong der neue Jungbrunnen für Hollywood werden, man malt sich Tom Cruise aus, wie er für „Mission Impossible 4“ nicht mehr die Fäuste wie Jackie Chan schwingen wird, sondern die Hüften wie Sharukh Khan. Auch in deutsche Kinos kommen immer wieder Filme von Bollywood. Und es ist sogar vorstellbar geworden, dass man in den Fußgängerpassagen von Wetzlar oder Ulm auf zwölfjährige deutsche Mädchen trifft, die sorglos eines dieser Lieder vor sich hin pfeifen, „Kuch Kuch Hota Hai“ etwa. Was läge also näher, als anlässlich des Länderschwerpunkts Indien auf der Frankfurter Buchmesse auch ein paar Bücher zum Thema Bollywood zu publizieren?

Drei Bücher sind in diesem Herbst in puncto Bollywood von Interesse – und es ist für jeden etwas Schönes dabei. Die, die es eher mimetisch mögen und nach einem Buch suchen, das einen ähnlich in andere Welten schießt wie ein Bollywoodfilm, dem sei zu Shobhaa Des „Glitzernacht“ geraten. Dem, der Zerstreuung inklusive ironischer Brechung sucht und hin und wieder ein Schlaglicht auf die Funktionsmechanismen dieser größten Filmindustrie der Welt mitgeliefert bekommen will, möge sich Shashi Tharoors „Bollywood“ vornehmen. Und für die, die nach der Lektüre eines Buchs eigentlich keine Wahl mehr haben wollen, als selbst einmal nach Bombay zu reisen und sich ein Bild zu machen, die sollten Suketu Mehtas „Bombay. Maximum City“ lesen – ein Marathonunternehmen irgendwo zwischen Roman und Reiseliteratur, eine Tour der Force des Journalismus, 700 Seiten Bombay von links, rechts, oben und immer wieder unten. 200 Seiten davon Bollywood.

Aber fangen wir von vorn an. Es muss wohl nicht extra gesagt werden, dass es sich bei Shobhaa Des „Glitzernacht“, das ziemlich genauso mitreißend kitschig ist wie ein Film aus Bombay, das Einzige unter den Genannten ist, das nicht fürs Ausland geschrieben wurde, sondern für Indien. Shobhaa De, geboren 1948 in Maharashtra, ist in Delhi und Bombay aufgewachsen. Nachdem dem Ende ihrer Modelkarriere wurde sie nicht nur sechsfache Mutter, sie hat auch dreizehn Sachbücher und Romane geschrieben, die es allesamt in die indischen Büchercharts geschafft haben. Shobhaa De schreibt Kolumnen in der Sunday Times und im Indian Express. Dort machte sie eine Mischung aus Hindu und Englisch hoffähig und nimmt bis heute vor allem Indiens High Society aufs Korn.

So auch in ihrem Buch „Glitzernacht“. Erzählt wird die Geschichte des Mädchens vom Lande, das auszieht und Bollywood vor allem wegen ihrer beträchtlichen Oberweite und ihrer skrupellosen Mutter erobert. Aasha Rani steigt mit so ziemlich jedem Produzenten, Regisseur und Schauspieler ins Bett, den sie nützlich findet. Zirka neunzig gefühlte Sexszenen weiter, in denen Frauen als „dreckige Huren“ bezeichnet werden, „Granatschenkel“ haben und sich mit Vorliebe vor die Gucci-Schuhe ihrer Angebeteten werfen, da verliebt sich unsere Heldin in Akshay Arora, Indiens größten Filmhelden, der allerdings verheiratet ist. Die Heldin wird immer unglücklicher, man folgt ihr in einen Selbstmordversuch, nach Neuseeland, London und in zahlreiche weitere Betten, und spätestens im letzten Drittel, da lässt die Konzentration ein wenig nach.

Das Buch erinnert schon viel zu früh an die letzten fünf Minuten eines Bollywoodfilms, wie sie Suketu Mehta in seinem „Bombay. Maximum City“ so richtig beschrieben hat: „Fünf Minuten vor Ende des Films werden in Indiens Kinos die Türen bereits geöffnet, und das Licht geht langsam an. Wer kleine Kinder hat, muss früh aufbrechen, um draußen noch ein Taxi oder eine Rikscha zu bekommen. Die letzten fünf Minuten eines Hindifilms sind unweigerlich verloren. Deswegen enden viele Filme auch mit einem Lied.“

Der Erzähler und Journalist Suketu Mehta ist als Teenager von Bombay nach New York gekommen, wo er heute noch lebt – und Ende der Neunziger ging er mit Frau und Kindern zweieinhalb Jahre nach Bombay (oder Mumbai, wie es seit einiger Zeit auf Druck der Hindu-Nationalisten heißt), um herauszufinden, was sich dort seitdem getan hat. Mit viel Leidenschaft und dem Blick des „eingeborenen Fremden“, wie es Carolin Emcke in ihrem Nachwort beschreibt, liefert er eine wahre Wundertüte sprachlich gekonnter und detailreicher Analysen.

Nicht nur hat sich Mehta in dieser Zeit die Geschichten von Auftragskillern und Bartänzerinnen aufgeschrieben, auch hat er dem Regisseur Vidhu Vinod Chopra beim Drehbuch für seinen Film „Mission Kaschmir“ geholfen, der bei uns vor wenigen Jahren in die Kinos kam. So erhielt er Einblicke über in die ehrlichen Versuche des Regisseurs, möglichst viel der Konflikte in Kaschmir in den Film zu retten – und über die Reaktion der indischen Zensur, die das nicht dulden konnte. Er erhielt aber auch Einblicke in Bollywood, von denen bislang noch nie zu lesen war.

Unendlich viel erfährt man im Buch Sukhetu Mehtas. Man erfährt, dass Bollywood für die ländliche Bevölkerung Filme mit viel Sex, Gewalt und Göttinnen produziert – und für die gebildeten Exilinder, die ihren Kindern im Kino zeigen wollen, was „indische Werte“ sind, schöne Liebesgeschichten. Man erfährt, dass es in den Filmen Bollywoods schon immer in Glaubensdingen toleranter zuging als im Rest des Landes – aus dem einfachen Grund, weil der Songschreiber oft ein Sunnit ist, während der Held, der einen Hindu spielt, ein Muslim ist, und die Heldin, die eine Muslimin ist, eine Hindu. Kurz: Suketu Mehtas Buch ist ein wunderbares, und es lässt den Leser aufgekratzt zurück.

Auch Shashi Tharoor, dem im Westen wohl bekanntesten der drei Autoren, der übrigens bei den Vereinten Nationen arbeitet und heute Assistent von Kofi Annan ist, hat sein Buch „Bollywood“ nicht für den indischen Markt geschrieben. Obwohl es in weiten Teilen solide Unterhaltung ist – ein Teil der Kapitel besteht aus frotzelnd kommentierten Drehbüchern zu imaginären Bollywoodfilmen –, erfährt der Leser nebenbei eine ganze Menge über den Filmbetrieb und ihre Verwicklungen mit der Politik. Am Ende nämlich hat der sagenhaft verehrte und nichtsdestotrotz bornierte Ashok Banjara einen verdienten Unfall, er liegt im Koma, und seine Angehörigen sollen sich aus medizinischen Gründen auf die Bettkante setzen und lange Monologe halten.

So lernt nicht nur der komatöse Held, auch der deutsche Leser lernt – wenn auch nicht ganz so viel wie bei Suketu Mehta. Er lernt, dass manche Tanzszenen in Bollywoodfilmen nicht vor den schneebedeckten Bergen der Schweiz spielen, weil es gilt, wie die Regisseure immer wieder behaupten, die Gemüter des Publikum abzukühlen, sondern wegen des Schweizer Bankgeheimnisses. Man lernt vieles über das reale Indien, über die Armut und wie sich bis heute die verschiedensten Volksgruppen und Kasten und Unterkasten blutig bekriegen. Man lernt, warum das alles nicht in Indiens kommerziellen Filmen vorkommen darf. Und man lernt, warum es auch nicht vorkommen soll: Weil das Publikum lieber Helden wie den sehen will, den Ashok Banjara verkörpert, einen „zornigen jungen Mann, der alles Krumme richtet, der sich gegen das Unrecht empört“.

All diese Beobachtungen von Shashi Thahoor sind erhellend und wahr. Und dennoch ist „Bollywood“ kein wahrhaftiges Buch. Je mehr man über Bollywood erfährt, desto mehr missfallen jene ironischen Bemerkungen, die der Autor immer wieder einstreut, um den Bombast, die Blutrünstigkeit und die Voraussehbarkeit dieser Filme zu karikieren. Man hat das Gefühl, als würde Shashi Tharoor sich mit dem Überschwang fremder Lorbeeren schmücken, sie aber dann verraten. Man legt das Buch also etwas frustriert beiseite und greift wieder zu dem von Shobhaa De. Da war nämlich noch was. Auch, wenn man schon dort, wo man es zugeschlagen hatte, der Meinung war, es wäre längst zu Ende.

Shobhaa De: „Glitzernacht“. Aus dem von Englischen von Uschi Gnade. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2006, 260 Seiten, 14 EuroSuketu Mehta: „Bombay. Maximum City“. Aus dem Englischen von Anne Emmert, Heike Schlatterer und Hans Freundl. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, 781 Seiten, 26,80 EuroShashi Tharoor: „Bollywood“. Aus dem Englischen von Peter Knecht. Insel Verlag, Frankfurt am Main, 413 Seiten, 22,80 Euro