Das Ende der Kartoffellogik

Endlich werden wieder Alternativen zu den neoliberalen Theorien diskutiert. Zahlreiche Bücher dokumentieren das. Schade nur, dass viele der keynesianischen Autoren immer noch auf unendliches Wachstum hoffen

VON ULRIKE HERRMANN

Linke und alternative Theorien scheinen sich wieder zu verkaufen. Was vor kurzem noch völlig antiquiert wirkte, bieten nun sogar große Verlage an: Bücher, die mehr Staat, mehr Schulden sowie höhere Steuern für Spitzenverdiener und Unternehmen verlangen. Es ist offenbar keine Schande mehr, sich zu den Lehren des britischen Ökonomen John Maynard Keynes zu bekennen.

Damit war kaum noch zu rechnen, schienen doch die Neoliberalen gesiegt zu haben. Ihre Programmpunkte sind längst Regierungspolitik, wurden von Rot-Grün ebenso verfolgt wie nun von der großen Koalition. Die neoliberale Gleichung ist letztlich schlicht: Die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland kann nur bedeuten, dass die hiesigen Beschäftigen zu teuer sind.

Am pointiertesten hat Ifo-Chef Hans-Werner Sinn diesen Gedanken formuliert, indem er Arbeitnehmer mit Kartoffeln verglich: Wenn zu viele Kartoffeln im Angebot sind, muss der Preis eben sinken, bis sie sich verkaufen lassen. Genauso bei den Arbeitnehmern: Wenn sie keinen Job finden, muss man ihren Lohn eben so lange drücken, bis endlich ein Arbeitgeber interessiert ist.

Wer die Kartoffellogik bezweifelte, wurde lange mit Nichtachtung bestraft. Wer neoliberalen Dogmen widersprach, hatte eben nicht begriffen, was „Globalisierung“ bedeutet. Bitter schildert der Bremer Volkswirt Rudolf Hickel seine Erfahrungen aus zahllosen Talkshows: „Der kritisierende Wissenschaftler wird zügig in den Funktionskader einer Gewerkschaft einsortiert, während der auf die Stärkung der kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse setzende Kollege nicht dem Kapital zugeordnet, sondern als unabhängiger, sachneutraler Wissenschaftler tituliert wird.“

Diese Kränkung ist vielen Keynesianern noch immer anzumerken, wenn sie nun zur Gegenattacke übergehen. Manche vergreifen sich bewusst im Ton. Der Unctad-Chefökonom Heiner Flassbeck nennt seine neoliberalen Kontrahenten eine „Sekte“, die viel „ökonomisches Gammelfleisch“ auftische. „Dem Bürger stinkt es.“ Albrecht Müller, einst enger Mitarbeiter von Willy Brandt und Helmut Schmidt, kündigt schon im Titel seines jüngsten Buches an, dass er die jetzige Führungselite nur noch „mittelmäßig“ findet. Wahlweise ist sie auch „inkompetent, „ohne Durchblick“, „abgehoben“, „dumm“, „gescheitert“.

Bereits die Wortwahl signalisiert, dass die Keynesianer nicht bestrebt sind, sich mit den neoliberalen Ökonomen zu verständigen. Allerdings dürfte eine Einigung auch gar nicht möglich sein – schon aus theoretischen Gründen. Die Volkswirtschaftslehre ist eben keine Naturwissenschaft, obwohl sie es gern wäre und sich mit vielen mathematischen Formeln versehen hat. Dennoch bleibt sie letztlich eine Geisteswissenschaft, die damit leben muss, dass die gleichen Fakten sehr unterschiedlich interpretiert werden können. Daher ist jede volkswirtschaftliche Theorie immer auch eine Ideologie in dem Sinne, dass sie letztlich auf Glaubensannahmen beruht.

Trotzdem sollten die Theorien zumindest widerspruchsfrei sein. Und die logischen Probleme bei den Neoliberalen sind inzwischen leicht auszumachen: Wenn in Deutschland die Löhne angeblich zu hoch sind – wieso sind wir dann Exportweltmeister? Und wenn wir doch Exportweltmeister sind – warum wächst die Wirtschaft in Deutschland so langsam wie sonst nur noch in Portugal?

Diese Fragen beantworten alle keynesianisch geprägten Autoren gleich: In Deutschland „stagniert die Binnenkonjunktur“ (Hickel). Arbeitnehmer sind eben doch keine Kartoffeln, denn ihre Gehälter sind nicht nur Kosten, sondern setzen sich in Kaufkraft um. Doch „seit 1996 sind die Realeinkommen pro Kopf nicht mehr gestiegen“ (Flassbeck); da ist es nicht erstaunlich, dass die Beschäftigten ihr Geld zusammenhalten. Zwar steigen die Gewinne der Unternehmer, aber das belebt den Konsum nicht merkbar, da die Vermögenden dazu neigen, große Teile ihres Einkommens anzulegen. Doch nicht nur die Reichen sparen; auch der Staat konsolidiert seine Haushalte, mindert seine Investitionen und fällt als bedeutender Nachfrager aus.

Das Ergebnis ist bekannt: Die deutschen Firmen sind nicht ausgelastet, sofern sie nicht für den Export produzieren. Also lautet ein Ratschlag aller Keynesianer, dass die Löhne deutlich steigen müssen. In diesem Weltbild ist Gerechtigkeit keine ethische Frage, sondern die einzig denkbare Win-win-Situation. Nur wenn die Massen kaufen können, boomt es auch für die Unternehmer. Oder wie Henry Ford gern zitiert wird: Autos kaufen keine Autos.

Für viele Keynesianer ist die Wirtschaft komplett lenkbar, wenn nur die staatliche Zins-, Steuer- und Finanzpolitik stimmt. Dieser Allmachtsanspruch findet sich besonders ausgeprägt in Müllers „Reformlüge“, wo es knapp heißt: „Man muss endlich wieder Vollbeschäftigung wollen.“ Die jetzige Massenarbeitslosigkeit stellt für ihn eine Art Verschwörung dar: „Maßgebliche Kräfte in Deutschland haben kein Interesse am Wachstum, das ist das Problem. Um ihre Behauptung von der Notwendigkeit von Strukturreformen aufrechterhalten zu können, brauchen sie weiter eine hohe Arbeitslosigkeit.“

Vollbeschäftigung setzt jedoch permanentes Wachstum voraus, schon weil die Produktivität jährlich steigt und immer weniger Menschen stets mehr Güter herstellen können. Doch obwohl das Wachstum so zentral für die keynesianische Theorie ist, werden die möglichen Grenzen kaum diskutiert. Flassbeck stellt einfach nur fest: „Ein marktwirtschaftliches System ohne Wachstum und Entwicklung ist wie ein Fahrrad im Stand: extrem labil und umfallgefährdet.“ Müller wiederum macht sich über die „Pseudo-Linken“ aus den Mittelschichten lustig, die über gesättigte Bedürfnisse faseln und in ihrer elitären Hochnäsigkeit nicht bemerken, dass die unteren Klassen noch so viele unerfüllte Wünsche haben – sei es bei der Bildung oder bei Reisen.

Da ist etwas dran, trotzdem irritiert es, wenn eine Theorie unendliches Wachstum propagiert, obwohl die Erde bekanntlich endlich ist. Phänomene wie den Klimawandel ignorieren viele Keynesianer. Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger schreibt auf der letzten Seite seines Buches nur noch kurz, „dass die meisten Gesellschaften in dem Maße umweltbewusster geworden sind, in dem sich auch ihr materieller Wohlstand erhöht hat“. Das mag sein. Nur leider entstehen die gravierenden Umweltprobleme überhaupt erst durch das Wirtschaftswachstum.

Auch über die endlichen Rohstoffe schweigen sich viele Keynesianer aus. Sie verlassen sich letztlich darauf, dass Knappheiten beherrschbar sind. So weist Gustav Horn darauf hin, dass höhere Ölpreise dazu führen, dass die Ölscheichs noch stärker bei den Industrienationen einkaufen. Das stimmt. Aber was ist, wenn Öl so knapp wird, dass auch eine erhöhte Energieeffizienz nicht mehr weiterhilft?

Unausgesprochen sind sich Neoliberale und Keynesianer einig, dass sie nur innerhalb des kapitalistischen Systems denken und nicht versuchen, seine Grenzen auszuloten. Das ist bei Marxisten natürlich anders. Elmar Altvater prognostiziert geradezu euphorisch ein „Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen“, weil Öl und Gas zur Neige gehen. Er sieht ein „solares Zeitalter“ heraufziehen, in dem die großen Konzerne automatisch entmachtet würden, da sich die erneuerbaren Energien nur noch dezentral gewinnen ließen. Zumindest bei Altvater kommt der marxistische Determinismus also doch noch an sein Ziel; nur heißt es nicht mehr Kommunismus, sondern „solidarische Ökonomie“.

Gelegentlich gibt es aber auch Nichtmarxisten, die den Kapitalismus als historisch vergänglich betrachten. Dazu gehört der Erfinder der Ökosteuer, der Schweizer Ökonom Hans Christoph Binswanger. Ihn verfolgt jene Frage, die sich in einer endlichen Welt aufdrängt: Ist der Kapitalismus auch ohne permanentes Wachstum denkbar? Binswanger ist da pessimistisch. Schon ein Nullwachstum würde den Kapitalismus in den Untergang treiben, weil Unternehmensgewinne letztlich nur durch stetig steigende Produktionsüberschüsse erwirtschaftet werden können. Eine kapitalistische Kreislaufwirtschaft ist damit nicht denkbar, aber in einer begrenzten Umwelt wird der Mensch langfristig zur Bescheidenheit gezwungen sein. Der Abschied vom Kapitalismus ist unausweichlich, doch für den Übergang hat auch Binswanger kein Rezept.

Das ist nur konsequent. Denn alle aktuellen Volkswirtschaftslehren haben letztlich das gleiche Ziel und die gleiche Beschränkung: Es handelt sich um Versuche, den Kapitalismus zu beschreiben. Eine zukünftige Wirtschaftsordnung ist damit nicht fassbar. Diese theoretische Begrenztheit erklärt auch den Déjà-vu-Effekt, der sich bei der Parallellektüre von mehreren Wirtschaftsbüchern einstellt: Von Nuancen abgesehen steht überall das Gleiche. Die große Trennung verläuft zwischen den Keynesianern und den Neoliberalen – aber innerhalb der Schulen herrscht weitgehende Einmütigkeit. Für eine Geisteswissenschaft ist die Volkswirtschaft erstaunlich variantenarm.