Mehr als Bollywood-Geschichten

Das Englische ist der Gewinner der Stunde. In diesem Punkt spiegelt die literarische Produktion getreulich die soziale Wirklichkeit

VON KATHARINA GRANZIN

Wer dieser Tage in Frankfurt unterwegs ist, wird verschiedentlich mit einem sehr bonbonfarbenen Plakat konfrontiert, auf dem ein sich dekorativ in den Armen liegendes indisches Liebespaar zu sehen ist. Er küsst sie keusch auf den Hals, derweil sie ein eher unkeusches Dekolleté gen Himmel reckt. Dazu in großen, schnörkeligen Buchstaben der hessisch babbelnde Schriftzug: „Verliebt in disch“. Dieses Werk illustriert hübsch ironisch, woran wir wohl zuerst denken würden, wenn uns jemand nach Assoziationen zur indischen Kultur befragte. In diesem Bereich hat in den letzten zwei Jahrzehnten ein geradezu extremer Paradigmenwechsel stattgefunden. Während früher knochige ältere Männer, versonnen den komplexen Tonkaskaden ihrer Sitars nachlauschend, als hauptsächliche Kulturträger des Subkontinents galten, so sind es heutzutage der stets wohlfrisierte Shah Rukh Khan und die bunten Saris seiner Filmpartnerinnen, die das Bild Indiens in der Welt maßgeblich prägen. Es ist also keine ganz abseitige Idee, uns mit der Mogelpackung Bollywood Literatur unterzujubeln. Denn das vermeintliche Kinoplakat bewirbt nicht den neuesten Leinwandheuler, sondern die Frankfurter Buchmesse, deren Gastland Indien dieses Jahr ist.

Flankiert wird das Großaufgebot von Büchern von einem umfangreichen Fachprogramm, dem Trendkongress „India on the Rise“ und einer hoch aufgehängten Veranstaltung zur Alphabetisierung. Letztere muss natürlich unbedingt Thema sein, wenn der Buchmessenschwerpunkt von einem Land bestritten wird, das eine Alphabetisierungsrate von nur rund 60 Prozent der erwachsenen Bevölkerung hat und diese Zahl zudem auch jene umfasst, die gerade einmal ihren Namen buchstabieren können, wie der Publizist Pankaj Mishra in der jüngsten Ausgabe von Literaturen schreibt.

Es gehört zu den Zielen dieses Länderschwerpunkts, auch der in indischen Regionalsprachen verfassten Literatur (Indien hat 24 offizielle Sprachen, das Englische eingeschlossen) hierzulande mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Von den 44 indischen Belletristik-Titeln, die 2006 auf den deutschsprachigen Markt kommen, sind, wie sich Buchmessendirektor Jürgen Boose auf der einführenden Pressekonferenz freute, immerhin 14 aus den Regionalsprachen übersetzt – teilweise sind das erste Früchte des vom indischen Ministerium für Human Resource Development neu eingerichteten Subventionsfonds für literarische Übersetzungen aus den indischen Regionalsprachen. Eine gute Sache. Dass der zuständige Staatssekretär in seiner Rede allerdings zum Beleg des traditionell regen geistigen Austauschs zwischen Indien und Deutschland allein die Übersetzung von Kalidasas „Shakuntala“ (die Goethe sehr beeindruckte) aus dem Jahr 1791 anführt, hat einen ulkigen Beigeschmack. Doch vielleicht stimmt es ja, dass das Interesse an indischer Literatur einen vergleichbaren Höhepunkt wie zu Goethes Zeiten, als der indische Kulturraum von den deutschen Intellektuellen überhaupt erst entdeckt wurde, seitdem nicht mehr erreicht hat.

Natürlich sind auch in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Hauptwerke der regionalsprachlichen Literatur Indiens ins Deutsche übersetzt worden, wie Bhisham Sahnis „Tamas“ aus dem Hindi oder U. R. Ananthamurthys „Samskara“ aus dem Kannada. Nur hat es kaum jemanden interessiert. Das Verlegen solcher Übersetzungen ist daher auch die Sache tapferer Klein- und Kleinstverlage. Der berühmteste zeitgenössische, Hindi schreibende Autor, der im letzten Jahr verstorbene Nirmal Verma, wird vom winzigen Heidelberger Draupadi Verlag betreut – in einer verdienstvollen Werkreihe, in sorgfältigen, noch mit dem Autor besprochenen Übersetzungen, die jedoch äußerlich den zweifelhaften Charme billiger Raubkopien mitbringen. Die Werke von Mahasweta Devi erscheinen im nicht minder unbekannten Horlemann Verlag. Die heute über achtzigjährige Grande Dame der bengalischen Literatur, die sich in ihrem Werk so vehement wie eindrucksvoll für die Kultur und Rechte der Ureinwohner Indiens, der Adivasi, einsetzt, ist trotz ihres Alters noch sehr umtriebig und wird auf der Frankfurter Buchmesse persönlich auftreten.

Es ist jedoch nicht in erster Linie die erschwerte Rezeption im Ausland, die das Schreiben in Regionalsprachen für die Autoren zum Problem machen kann. Auch im eigenen Lande tendiert englisch geschriebene Literatur dazu, wesentlich mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, hat sie doch den unschätzbaren Vorteil, in ganz Indien gelesen werden zu können. Der in Bombay ansässige Kiran Nagarkar zum Beispiel, der seine schriftstellerische Laufbahn auf Marathi begann, beugte sich irgendwann diesem Marktgesetz. Von seinem ersten Roman „Sieben Sechsen sind 43“ (natürlich noch nicht ins Deutsche übersetzt), der indischen Kritikern als ein Höhepunkt der Marathi-Literatur gilt, verkauften sich in dreißig Jahren gerade einmal 1.500 Exemplare. Seinen nächsten Roman „Ravan & Eddie“ (A1 Verlag) schrieb Nagarkar auf Englisch. Er wurde ein Riesenerfolg und machte den Autor auch in anderen Teilen des Landes bekannt. Die Kritiker jedoch schmähten den Sprachwechsler als Abtrünnigen, der die marathische Kultur verraten habe. Zwar gibt es auch Autoren, die den umgekehrten Weg gehen und sich bewusst gegen das Englische als Literatursprache entscheiden, wie die im bengalischen Kalkutta lebende Alka Saraogi, die auf Hindi schreibt. Ihr Roman „Umweg nach Kalkutta“ (Insel Verlag) ist allerdings im Herbstprogramm der deutschen Großverlage der einzige aus einer originär indischen Sprache übersetzte Titel.

Dass indische Schriftsteller englisch schreiben, ist beileibe kein neues Phänomen und galt früher nicht einmal ansatzweise als politisch verdächtig. R. K. Narayan und Raja Rao, die in den Jahrzehnten nach Erlangung der Unabhängigkeit berühmt wurden, bedienten sich des Englischen als Ausdrucksmittel und waren dabei ganz selbstverständlich antikolonialistisch eingestellt. Auch die schon seit langem in den USA lebende, englisch schreibende Anita Desai wurde schon immer vorbehaltlos zur indischen Literatur gezählt und hoch verehrt. Doch den wirklich großen Durchbruch für das Englische als indische Literatursprache oder für die Wahrnehmung indischer Literatur im Ausland brachten diese Autoren nicht. Der kam erst im Jahr 1981, als „Mitternachtskinder“ veröffentlicht wurde. Es war Salman Rushdies zweiter Roman, und ganz offensichtlich war es der Roman, auf den Indien gewartet hatte. Er schien so etwas wie ein nationales Bewusstsein getroffen zu haben, vielleicht auch erst zu konstituieren, und er tat es auf Englisch.

Heutzutage, da es fast zur Massenerscheinung geworden ist, dass indische Autoren im Ausland leben, englisch schreiben und mitunter richtig viel Geld damit verdienen, ist eine Art Kulturkampf in Gang gekommen. Aufmerksame Kulturwächter klopfen die literarische Produktion verdächtiger Landsleute routinemäßig nach Anzeichen darauf ab, ob sie möglicherweise auf den Literaturgeschmack und den Erfahrungshorizont eines „westlichen“ Lesepublikums hin geschrieben wurde. Auch ein Salman Rushdie entgeht diesem Misstrauen nicht. Seine herausragende Rolle für die Entwicklung der indischen Literatur der letzten zwei Jahrzehnte aber würde niemand bestreiten. Alle sind sie Nutznießer des so genannten „Rushdie-Effekts“: Vikram Seth, Amitav Ghosh, Vikram Chandra, Kiran Desai, Rohinton Mistry – international arrivierte Autoren, die teilweise oder sogar ganz in Nordamerika oder England leben, aber aufgrund ihrer thematischen Orientierung nach Indien definitiv Teil der indischen Literatur sind. Drei der vier wohl wichtigsten Veröffentlichungen des indisch-deutschen Bücherherbstes stammen von Autoren, die die meiste Zeit des Jahres in den USA wohnen: Kiran Desai (Berlin Verlag) und Vikram Chandra (Aufbau Verlag) legen große neue Romane vor, und auch Suketu Mehtas dickleibige Reportage „Bombay – Maximum City“ (Suhrkamp) gehört zu den literarischen Highlights.

Doch es scheint auch möglich zu sein, über Indien nicht nur aus der Ferne zu schreiben. Wenn das, was derzeit auf die Büchertische kommt, als repräsentativ für den Stand der Dinge gelten darf, so scheint es, als ob sich nach dieser mittleren Generation von so genannten Non-residents mittlerweile eine Autorengeneration formiert, deren Vertreter auf dem Subkontinent leben oder dorthin zurückgekehrt sind. Sie haben weder mit dem verspielten magischen Realismus nach Rushdie-Art noch mit dem sozialkritischen Gestus der älteren Autorengeneration etwas am Hut, sondern bringen mit wachem Blick für die Lebenswelten in Indiens Metropolen einen temporeichen, lakonischen Realismus aufs Papier, dessen soziale Sprengkraft sich aus der Genauigkeit der Beobachtung speist. Für den 1966 geborenen Raj Kamal Jha (auf Deutsch bei Goldmann verlegt) gelten diese Attribute ebenso wie für den 1977 geborenen Altaf Tyrewala (dessen Bombay-Roman „Kein Gott in Sicht“ beim Suhrkamp Verlag erschienen ist).

Der größte Trend aber bleibt unbestritten: Das Englische ist der Gewinner der Stunde. In diesem Punkt spiegelt die literarische Produktion getreulich die soziale Wirklichkeit Indiens. Denn in Zeiten einer den Bedingungen der Globalisierung unterworfenen Wirtschaft ist die Beherrschung des Englischen der alles entscheidende Maßstab. Wer globalisiert spricht, zählt zu den Gewinnern, wer es nicht tut, wird nie einen Job im Callcenter bekommen. In seiner wunderbaren Erzählung „Vier Gespräche und ein paar Träume“ greift Raj Kamal Jha ebendieses Callcenter als zentrales Sinnbild für die Widersprüchlichkeit des „neuen“ Indien auf: Einerseits ist es Inbegriff des ökonomischen Aufschwungs, andererseits Symbol zunehmender Entfremdung. Doch sein Job bietet dem jungen Callcenter-Angestellten auch hin und wieder die Chance, mit einer freundlichen Person aus dem fernen Kalifornien zu plaudern, kleine Einblicke in eine fremde Lebenswelt zu tun und im Gegenzug Einblicke in das eigene Leben zu gewähren. Das ist nicht wenig. Und wenn die Literatur genau das leisten kann, ist das doch ziemlich großartig.