Die Menschheitsoper

DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH

Wolfgang Schäuble sollte zur „Idomeneo“-Aufführung auch die Bischöfe beider Konfessionen einladenSeit der Kapitalismus seine Versprechen nicht halten kann, geht es um die „Wiederkehr der Religion“

Innenminister Schäuble hat die Islamkonferenz eingeladen, mit ihm die nächste Aufführung des „Idomeneo“ an der Deutschen Oper anzusehen. Das ist vielversprechend. Nicht nur, weil es um die Frage geht, ob wir in Zukunft die Freiheit des Regietheaters mit Minenhunden verteidigen müssen. In Mozarts Oper wird die Urszene der judäo-christlichen Zivilisation nachgestellt: das Opfer und das Selbstopfer für eine höhere Gewalt.

In der furchtbarsten Szene willigt Idamantes, der Sohn des Idomeneo, in seine Schlachtung durch König/Vater und Priester ein: „Nein, ich fürchte nicht den Tod / wenn dafür das Vaterland, der Vater / ihr Götter, mit eurer Liebe … beschert werde“. Auf meiner CD singt Cecilia Bartoli das als zitternden, verzweifelten und wütenden Protest. Die Worte sind mit dem Opfertod einverstanden; aber das gesungene Gefühl rebelliert, und die lebens- und liebesverneinenden Verse „… meine Seele wird Ruhe finden / wenn sie beim Verlassen meines Körpers / meiner Liebsten Leben und Friede schenkt“ hat Mozart ton- und ausdruckslos gelassen, das Leben ist aus ihnen schon gewichen. Und dann kommt zornig und voller Verachtung die Aufforderung an den Vater, mit der perversen Exekution zu beginnen.

Idamantes willigt nicht ein in die Kette der Opfer, sondern rebelliert. Mit seiner genialen Fähigkeit zur Subversion des Offensichtlichen dementiert Mozarts Musik das Libretto, lehnen sich die Gefühle gegen die Terror der gesellschaftlichen Zwänge auf. In Hans Neuenfels’ Inszenierung folgt auf die Rebellion in der Musik die Revolution auf der Szene: Der erschütterte Idomeneo enthauptet alle großen Götter – und dankt ab. Die Botschaft lautet: Solange Menschen Fetischen gehorchen, solange Herrschaft sich mit Göttern legitimiert, geht das Morden weiter. Aufklärung – das ist die Emanzipation von metaphysischen Mächten, vom Jenseitsglauben, vom Opfer als der Grundlage der Gesellschaft; sie ist die Entthronung – und manchmal eben auch Enthauptung – irdischer Gewalten, die ihre Autorität von Gottheiten ableiten. Es soll nicht mehr gestorben werden: nicht für Gott, nicht fürs Vaterland und auch nicht für die Abstraktionen Nation, Klasse, Rasse. Insofern hätten die Köpfe von Stalin und Hitler noch dazugehört.

Wolfgang Schäuble sollte zur Gala-Vorstellung des „Idomeneo“ – der Polizeiaufwand wird beträchtlich sein – auch noch die Bischöfe beider Konfessionen und den päpstlichen Nuntius einladen. Denn am Ende dieser Vorstellung wäre nicht über Kunstfreiheit zu reden oder darüber – wie Adolf Muschg es sagte – „ob auch Moslems gegen die Enthauptung Jesu protestieren“. Es geht auch nicht um einen „Dialog der Kulturen“. Sondern um das riesengroße Folgeproblem der Aufklärung.

Das Abschlagen von Götterköpfen war nämlich nur der erste Teil der Aufgabe, und es hat ein riesengroßes Loch in der Seele der Menschen hinterlassen. Der Glaube an die Unsterblichkeit (der Seele) ist der Untergrund nicht nur der westlichen Zivilisation gewesen. Wo er verblasst, stellt sich das schlimme Gefühl ein, dass das Leben hier und jetzt das einzige ist, das es gibt. „Wenn der Tod allem ein Ende setzt“, schrieb George Orwell l944, mit Weltkrieg, Gulag und KZ vor Augen, „wird es viel schwieriger zu glauben, dass man auch dann im Recht sein kann, wenn man besiegt worden ist. Staatsmänner, Nationen, Theorien, Aktionen werden dann fast zwangsläufig nach ihrem materiellen Erfolg beurteilt.“ Es zählt nur die Gegenwart und das Volk, befreit vom Dienst und Tod für falsche Götter, gibt sich dem Hedonismus hin, nach der Parole „What has posterity done for me?“.

Seit das Versprechen des materiellen Fortschritts für sechs Milliarden Menschen nicht mehr zu halten ist, weder kommunistisch noch kapitalistisch, steht die „Wiederkehr der Religion“ auf der Agenda. Die humanistische „Religion des Menschen“ aus der Zauberflöte, John Lennons Liebesbotschaft und die Sozialdemokratie reichen offenbar nicht aus, eine „verkürzte Vernunft“ zu zügeln. Und damit sind wir beim zweiten religiösen Skandal dieser Tage: der Regensburger Rede des Papstes. Den treibt – ebenso wie moslemische Geistliche, atheistische Humanisten und verantwortungsethische Politiker – der Horror vor einer materialistischen Menschheit um, in der nur noch das individuelle Gewissen gilt, keine moralischen Werte unbestritten zählen und die instrumentelle Vernunft die Weltzerstörung beschleunigt: „Dieser Zustand ist für die Menschheit gefährlich.“

Diese Gefahr treibt vielfältige „spirituelle Erneuerungen“ ebenso hervor wie esoterische Abwendungen von der Welt und tausend säkulare Blüten eines ohnmächtigen Krisenbewusstseins. In ebendiesem „Relativismus“ sieht der Papst die größte Gefahr – für die erodierende geistliche Macht seiner Religion. Damit wird er zum Risikofaktor. Nicht nur, weil sein Postulat einer exklusiven Partnerschaft von Christentum und wissenschaftlicher Vernunft historisch und theologisch fragwürdig und politisch arrogant ist. Nicht nur, weil ein Katholizismus, dessen Reconquista auf den Dualismus von Eliten-Spiritualismus und seichter Affekt-Religiosität mit gelegentlichen Massen-Events setzt, sich an die Klassenspaltung der Welt anschmiegt. Nicht einmal, weil Kardinal Ratzinger den Tod der Befreiungstheologie auf dem Gewissen hat, sich konsequent selbst der christlichen Ökumene verweigert und dem reaktionären amerikanischen Moralkonservatismus Beifall spendete. Sondern vor allem, weil unter seiner Führung die katholische Kirche vor der Aufgabe des 21. Jahrhunderts zu versagen droht.

„Seitdem der Glaube aufgehört hat, dass ein Gott die Schicksale der Welt im Großen leite … müssen die Menschen selber sich ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele stellen … Wenn die Menschlichkeit sich nicht durch eine bewusste Gesamtregierung zugrunde richten soll, (muss) eine alle bisherigen Grade übersteigende Kenntnis der Bedingungen der Kultur, als wissenschaftlicher Maßstab für ökumenische Ziele, gefunden sein. Hierin liegt die ungeheure Aufgabe der großen Geister des nächsten Jahrhunderts.“ Das schrieb Friedrich Nietzsche, der tief um die Folgeprobleme der Götterenthauptung wusste.

Es mag ja sein, dass das „Projekt Weltethos“ einstweilen politisch so blass bleibt wie die UNO machtlos. Aber von einer Rückkehr der alten Religionen ist nichts Gutes zu erwarten. Schlimmstenfalls wärmt sie die Achse Rom–Washington, bestenfalls stabilisiert sie den Status quo. Aber gerade dieser – die Globalisierung der Mammon-Religion – ist mit dem Bestand der „Schöpfung“ und mit dem Leben von Milliarden von Menschen unvereinbar.

Wer über den Kapitalismus nicht reden will, der wird gebeten, über Religion zu schweigen. Und vielleicht sollte der Innenminister, wenn er um neue Werte ringt, ein ganz anderes Konzil einberufen: eines von Klimaforschern, Ökonomen, Psychologen, Solaringenieuren, Pädagogen.

Aber ganz ohne Kunst wird’s nicht gehen. Nichts Großes ohne Leidenschaft. Der nächste Mozart möge also bitte – um mit dem schönen Wort von Alexander Kluge zu sprechen – „Möglichkeitsopern“ schreiben, die uns die Kraft geben zu Menschenopfern neuer Art.

Fotohinweis: Mathias Greffrath lebt als Publizist in Berlin