Geheimes hinterm Schlüsselloch

Sönke Wortmanns Film „Deutschland. Ein Sommermärchen“ verspricht, was er nicht halten kann: einen Blick in die Intimsphäre einer Mannschaft. Denn Umkleidekabinen geben Geheimnisse nicht preis

Räume, strenger abgeschirmtals andere Zimmer: Selbstdas elterliche Schlafzimmer ist nichtso geheimnisumwabert

VON JAN FEDDERSEN

In ihnen kann es, je nach Geschmack, säuerlich riechen oder anheimelnd, nach der Benutzung oft jedenfalls nach Duftwässern. Umkleidekabinen sind mehr als Zimmer, in denen man oder frau sich umzieht – ins Sporttrikot vor einem Spiel, zurück in die gewöhnliche Kleidung nach der Partie. Dass es ein Mehr ist, das diesen Teil einer jeden Sporteinrichtung auszeichnet, ja sein muss, muss mit dem Spannungsverhältnis zwischen Verhüllung und Nacktheit selbst zu tun haben: Und wie jede Form der Entblößung wirkt sie umso geheimnisvoller, je verbotener es ist, an ihr teilzuhaben. Sie ist zugleich eine Nacktheit, die nicht körperlich als solche gemeint sein muss: In der Kabine einer Mannschaft wird, so wird überliefert, Tacheles geredet, offen und blank, hart, gemein, aggressiv. Zu sehen bekommt das Publikum nur den offiziellen Teil. Wenn jemand, obwohl eigentlich unbefugt, die Kabine besucht, wie Angela Merkel nach einem WM-Spiel, wird es peinlich: Der Besucher sieht nur ein aufgeräumtes, vorgetäuschtes Abbild des Raumes.

Was die Mannschaft in der Umkleide besprochen hat, wie sie miteinander agiert hat, bleibt uns auf alle Fälle fremd. Psychisch wie physisch. Und das soll auch so sein: Umkleidekabinen sind allenfalls noch symbolisch Refugien, in denen es, nach Geschlechtern getrennt, um die Verhüllung der Körper geht – um einen Platz, an dem man sich entblößen kann, ohne sich den Blicken des jeweils anderen Geschlechts aussetzen zu müssen. Räume, die dem gemeinsamen Aus- wie Anziehen dienen, sind strenger abgeschirmt als alle anderen Zimmer: Selbst das elterliche Schlafzimmer ist nicht so geheimnisumwabert wie die Umkleidekabine. Sönke Wortmann, Regisseur des Films „Deutschland. Ein Sommermärchen“, könnte das gewusst haben: Dass die Welt einer Fußballmannschaft in ihrer Umkleidekabine eine andere, nichtoffizielle ist. Und sie deshalb besondere Aufmerksamkeit auf sich zieht: Wie gehen die miteinander um? Wer wird von wem wie angeflachst? Was sagt der Trainer? – und wer ist heimliche Herrscher hinter der Kulisse?

Das Publikum hat Fragen und bekommt nie Antwort. Überliefert sind nur Anekdoten. Jener von der Sportreporterin aus Hamburg, die, eine Dame mit feinsten Manieren, sich einen Weg in die Kabine einer argentinischen Mannschaft verschaffte – flirtete sie dafür mit allen Spielern? Akquirierte sie das Interview, indem sie dem Topstar, Maradona, besondere Avancen machte? Da waren die Kollegen neidisch: Mit solchen Trümpfen konnten sie nicht aufwarten – und der Aspekt der Kumpanei, gerne von Reportern bedient, die besondere Nähe zu Spielern suchen, war in dem Fall gänzlich unwirksam.

Legendär auch die Geschichte, wie manche Spieler nach Erfolgen in den Whirlpool stiegen und nicht herausfanden, weil ihnen ihr Ding stand wie nichts Gutes: Bei praktizierter Homoerotik wollte sich niemand erwischen lassen. Was das Thema Umkleidekabine, topografischer Fokus aller Einschwörungen für was auch immer, noch besonders heikel macht: Die Blicke des anderen Geschlechts sind draußen gehalten – aber das heimliche Begehren ist damit nicht verschwunden. Schwulenwitze („Rutscht einer unter der Dusche auf einem Stück Seife aus … und keiner bückt sich“), neulich in einer Werbung sogar auf allen Sendern, sind die beliebtesten unter Männern, die sich ihre Heterosexualität besonders lautstark einbilden.

Dass die Umkleidekabine ein Ort der sexualisierten Unterstellung ist, versteht sich fast von allein. Schon in der Imagination ist in dem Wort alles geborgen, was verboten ist, was aber Körperlichkeit verheißt: der Dampf heißer Duschen, das Prickeln und Perlen in einem „Wohlfühlbecken“ (wie der Whirlpool auch genannt wird), nackte Körper, die Unterleibe nur von Handtüchern verdeckt – wobei als Abtörner vielleicht nur die Fußbekleidung gelten müsste: Lothar Matthäus, der ewige Nichtbundestrainer, machte die sportlichen Flip-Flops populär, stilistische Nachfahren der Klapperlatschen aus Plastik – der Adiletten. Aber auch sie birgt eine Vorstellung von Sünde: Latschen im Dampfrefugium helfen gegen Fußpilz – und den zogen unsere Vorfahren sich in Badehäusern zu.

In Umkleidekabinen wird, vor allem in der Halbzeitpause, das Innen beschworen – und das Außen als Feindliches mitgedacht. Wir schaffen das! Wir müssen an uns glauben! Die packen wir! – Banale Sprüche aus einer Fibel für schlechte Motivatoren, wenn die gar nicht mehr weiter wissen? Keineswegs. Auf solch simple Botschaften kommt es an, wenn die Öffentlichkeit ausgesperrt ist, kein Reporter zuschaut, niemand mitbekommt, wie aufgeheizt man ins Spiel (zurück)geht – ein Platz, um sich in Trance bringen zu lassen, alles Störende wegzuschreien – vor allem ablenkende Gedanken. Ein Korpus der Indienstnahme für das mannschaftlich Ganze: der Einzelne, beim Mannschaftssport vor allem, als Nichts, das Individuum als gültiges, wenn es seinen Platz begreift, und zwar im Sinne der Hierarchie. Die Intimität des Ausziehens gilt nur für das Außen-, nicht für das Binnenverhältnis. Man lernt sich kennen, kann sich nicht aus dem Auge gehen. Einer hat Tattoos, um den Hals des anderen baumelt ein christliches Zeichen. Ungeschützt ist in der Umkleidekabine nur, was das Verhältnis zum Draußen bestimmt – das war wohl, interpretiert man den Film Wortmanns genau, auch in der Klinsmann-Elf so. Der frühere Bundestrainer und sein Assistent Joachim Löw müssen zeitig begriffen haben, dass nichts ein Team mehr zerstört als ein Innenverhältnis, das den Starken, Durchsetzungsfähigen alles einräumt – vor allem das Hacken auf die Schwächeren. Das immerhin sieht man in dem Film: die Umkleidekabine als Ort, von dem aus ein Team sein Tun dekliniert, nicht zersetzt. Der Motivation freisetzt, nicht die Furcht vor dem Versagen.

Dann riecht es, Forscher sagen dies einmütig, später nicht nach Angstschweiß, sondern nach Körperlichkeit, die sich nicht aggressiv behindert. Reportierbar ist die Atmosphäre aus Umkleidekabinen trotzdem kaum: Eine norwegische Sportjournalistin erwarb das Privileg, in der Halbzeit sich dort aufhalten zu dürfen. Sie musste wieder einpacken, Spielerfrauen hatten gegen ihre Präsenz protestiert. Was sie zu berichten hatte, war ohnehin kaum der investigativen Rede wert: Neuigkeiten waren es keine, weil diese nur als Teil der Gruppe empfunden werden können.

Auch Wortmanns Films gibt nur einen Teil der Wahrheit preis, einen sehr kleinen obendrein, der mehr den Eindruck eines Urlaubsvideos hinterlässt, nicht den einer Dokumentation aus dem Innersten, eine Wahrheit jedenfalls, die beim Blick durch das Schlüsselloch auch nicht entdeckt werden kann. Ein solcher sieht immer nur das, was es sehen will – die Eltern beim Sex? Oh Gott, was ist das? Nicht das, was, in dem Fall, beide Beteiligten miteinander teilen: ein Gefühl über das Leibesertüchtigende hinaus. Wahrscheinlich filtert jeder Akteur eine andere Wahrheit aus dem Geschehen, empfindet Situationen anders – und macht sie zur eigenen.

Dass es auch in den Umkleidekabinentrakten Miniaturorte der Intimität geben kann, beweist ein Blick über die Kleiderhaken und Sitzbänke hinweg: Die Toiletten sind alle abschließbar. Das ist dann tatsächlich eine Binnenarchitektur wie in einer Familie – die privaten Wohnräume nicht abgeschlossen, aber die Aborte allesamt. Räume, die mannschaftlich nicht zu erobern sind. Wortmanns Film spart diese aus: Er wusste, wo Intimes bewahrt werden muss.