Der Kunstmaschinist

Zwischen großem Wosinn und kleinem Wahnsinn: In zwei Wochen sollte der Dichter Oskar Pastior den Georg-Büchner-Preis erhalten, kurz vor seinem 79. Geburtstag ist er nun in Frankfurt verstorben

VON OLIVER RUF

Unter den Silbendrechslern und Sprachakrobaten, den Dadaisten und Experimentaldichtern, den Lautpoeten und Vortragskünstlern des vergangenen Jahrhunderts war er der Leiseste, unter den herausragenden Schriftstellern der deutschen Literatur war er einer der Lautesten – Oskar Pastior, kein Zögern, besaß vielerlei Talent. Dass seine Stimme beides verlauten ließ, sowohl sachte die gängige Sprache auf ihre Vielfalt hin durchforschte als auch dröhnend die Tradition durchbrach, erwies sich als ausgesprochen ertragreich. Der „große Wosinn“ endet im Werk des 1927 im Siebenbürgischen Hermannstadt geborenen Wortakrobaten stets im „kleinen Wannsinn“ und umgekehrt: „Kein / Guckloch, wo der Wosinn seinen Wannsinn fände [...]“.

Freiheit – im Besonderen die Freiheit des Wortes – wollte Pastior mit seiner Autorschaft prägen und provozieren, weshalb sich sein poetisches und poetologisches Engagement in zahlreichen Büchern präsentierte, die einerseits die Grenzen der Regelhaftigkeit ausloten und andererseits die Vokale kobolzen lassen. Es war vor allem ein Thema, das Pastior sein Leben lang nicht losließ. Die „Zeile als Willkür und Maß“ fand in der Arbeit des brillanten Lyrikers ein unendliches Echo aus Analyse, Echo und Kreativität. Der Erfolg seines Lebenswerks gab ihm am Ende recht: In zwei Wochen sollte er den Georg-Büchner-Preis erhalten, die wichtigste deutsche literarische Auszeichnung – eine Ehre, die einige Jahrzehnte zu spät kam, aber volle Zustimmung verdient.

Pastior sah sich selbst in der Rolle eines „Kunstmaschinisten“, der mit der Kreation und Vorführung neuer Sprachspiele darauf hinwirkte, dass Anagrammgedichte und Wechselbälger, Palindrome und Gimpelstifte, Sonetburger und Villanellen nicht zwischen Buchdeckeln vergilben, sondern fortleben: als dauerhafte Spracharbeit, von der sich symptomatisch sage ließe, „du habest es rauschen gehört“ (so der Titel des gerade erschienenen, jüngsten Bandes der Pastior’schen Werkausgabe). Nach dem Einmarsch der Roten Armee wurde der deutschsprachige Rumäne als Siebzehnjähriger für fünf Jahre in ein ukrainisches Lager deportiert. Es folgten rumänischer Militärdienst, während dem er das Abitur ablegte, und schließlich ein Germanistikstudium in Bukarest. Pastior fand eine Anstellung als Rundfunkredakteur und ergriff 1968 die Chance, fortan in Deutschland als freier Autor zu existieren.

Viel Intelligenz und Hartnäckigkeit verwandte er seither darauf, die Potenz der Sprachsedimente, das genial „Pastior’sche“ zu ergründen. Seiner äußeren Erscheinung nach war Oskar Pastior ein zarter Citoyen, ein stiller, aber kraftvoller Kavalier, dessen Haar wild in die Höhe und dessen Schnurrbart fast über den Mund wuchs und dessen Lesebrille so schön schief auf der Nase saß. Als Vortragender war er eine Legende; sein Märchenonkeltimbre ist unvergesslich. Der genaue Beobachter von „Fertigbauteil- und Ideologiesprache“ übersetzte und verwandelte die Literatur von Velimir Chlebnikov, Wilhelm Müller, Gertrude Stein und Charles Baudelaires in eindrucksvolle Lektüren – sein Spektrum reicht bis in die tiefste Syntax und Grammatik, „bis in die moleküle hinein“, vom „Sichersten ins Tausendste“: „das gedicht gibt es nicht. es / gibt immer nur dies gedicht das / dich gerade liest. aber weil / du in diesem gedicht siehe oben / sagen kannst das gedicht gibt / es nicht und es gibt immer nur / dies gedicht das dich gerade / liest kann auch das gedicht das / du nicht liest dich lesen und / es dies gedicht hier nur immer / nicht geben. beide du und du / lesen das und dies. duze beide / denn sie lesen dich auch wenn / es dich nicht nur hier gibt.“

So bleibt uns Oskar Pastior als farbige, fröhliche, angenehm zurückhaltende Figur in Erinnerung, die irgendwann in den Zaubertranktopf der Sprache gefallen war und bis zuletzt meisterlich daraus schöpfte.