Um drei Uhr tragisch, und zwar pünktlich

Anja Hilling liebt Worte wie „Schichtwechsel“ und „Feierabend“ und jobbt deshalb in einer Kneipe. Nötig hätte sie es nicht: Denn die junge Dramatikerin aus Berlin kann über mangelnden Erfolg nicht klagen. Ein Porträt der Autorin, deren Stücke in Wien, München, Berlin und Mexiko-Stadt zu sehen sind

Hillings Knappheit verhindert, dass die Poesie in ihrem Schreiben zum Schwulst wird, Ironie und Heiterkeit dämpfen die Tragik

VON SABINE LEUCHT

Anja Hilling, Jungdramatikerin mit frisch zurückliegenden Premieren in Schottland und Mexiko, schreibt keine niedlichen Stücke. In „Protection“, das am 18. Oktober am Maxim Gorki Theater Berlin uraufgeführt wird, beschreibt sie minutiös den Schleim, den die obdachlose Lucy in ihre „Sommerhäschen“-Tasse hustet. Im Soap-nahen „Monsun“ lässt sie den Jungen Zippo mit einer Tüte Brezeln unter ein Auto kommen, nachdem seine Mutter ihn gewarnt hat: „Wenn du dir Brezeln kaufst, kannst du was erleben“. In „Bulbus“, uraufgeführt im März am Burgtheater Wien, treffen zwei, die sich „schon immer“ kannten, in einem Bergdorf aufeinander und auf Menschen, die vielleicht ihre toten Eltern sind.

Begegnungen und Verluste, halb schicksalhaft, halb mysteriös, leuchten am kräftigsten unter den vielen Fäden der kaleidoskopisch-verrätselten Hilling-Dramatik, in der Gewitter-Blitze den Menschen bleibende Narben schlagen („Bulbus“) und Gefühle oft nur flüchtig sind. Hier schreibt jemand, als müsse der Mär von der Planbarkeit des Lebens endlich eloquent widersprochen werden. So sagt sich die zum Selbstmord entschlossene Frau Schlüter in „Mein junges idiotisches Herz“: „Um drei Uhr, und zwar pünktlich, bin ich eine tragische Frau.“ Das rote Kleid, der ganze Putz zum standesgemäßen Abgang aus einem belanglosen Leben liegen schon bereit, da wimmelt es in dem alten Berliner Mietshaus plötzlich von kontaktsuchenden und selbstmordvereitelnden Gulaschköchinnen, Postboten und Fruchtsaft-Lieferanten.

In einem Rutsch und mit sehr viel Freude habe sie das Stück geschrieben, mit dem im Herbst 2004 ihr rasender Aufstieg begann. Sagt die heute 31-Jährige, die für „Mein junges idiotisches Herz“ auch gleich von der Zeitschrift Theater heute zur Nachwuchsdramatikerin des Jahres gewählt wurde. Doch heute könne sie das Stück nicht mehr sehen, ohne dass es ihr peinlich sei: „Viel zu selbstverliebt!“, schnaubt sie. Ja, die Gefahr des Manierismus und der Überfrachtung besteht durchaus, wenn Anja Hilling an die Arbeit geht. Doch die in München aufgewachsene Wahlberlinerin nimmt einem gerne mit Selbstkritik den Wind aus den Segeln: „Wann ist mir denn so was eingefallen?“, seufzte sie etwa nach der Uraufführung von „Engel“ Ende September an den Münchner Kammerspielen, in der die Regisseurin Felicitas Brucker Hillings bislang träumerischstem Stück etwas schroff, aber sehr bühnenkompatibel das Mysterium ausgetrieben hat. Mit der wunderbaren Sylvana Krappatsch als allzu irdische Barfrau Asta, an deren Tresen einstige Liebende und vielleicht Gestorbene noch einmal aufeinander treffen: Menschen mit unbedingten Gefühlen, für die Tod oder Leben, Erinnerung und Realität nur verschiedene Aggregatzustände sind.

Für Anja Hilling war „Engel“ das Gegenexperiment zum tragödienhaften Beziehungsstück „Monsun“. Sie wollte, sagt sie, die Figuren auch mal aussprechen lassen, was sie fühlen, und der Frage nachgehen: „Wie zärtlich können wir übereinander denken?“ Denn meistens stehen Gefühle nur zwischen den Zeilen bei ihr. Mit dem Risiko, dass es auf der Bühne banal werden kann, wenn sich die Regie nicht um Zwischentöne schert.

Ob sich Anja Hillings geschmeidiges Schreiben, in dem die Knappheit verhindert, dass sich die Poesie zum Schwulst aufbläht, und Ironie und Heiterkeit die Tragik dämpfen, dauerhaft mit dem Theater verträgt, wird man sehen. Ihre Vorliebe für Rückblenden, windschiefe Chronologien und schnelle Schnitte lässt jedenfalls eher an den Film denken. Nun, gibt Hilling zu, die an der FU Berlin Theaterwissenschaft und an der Universität der Künste Szenisches Schreiben studiert hat, sie gehe auch lieber ins Kino. „Aus der Theaterwelt halte ich mich absolut raus.“ Bei Premieren müsse sie natürlich mit auf die Bühne und anschließend „interessante Leute kennen lernen“, doch Betrieb wie Erfolg, sagt sie, hätten auf ihr Schreiben keinen Einfluss.

„Ich liebe einfach die Form und gute Dialoge, werde aber niemals über Hartz IV schreiben, weil ich mich da nicht auskenne. Und Recherchieren hat für mich zu viel mit dem Studium zu tun.“ Die Stoffe für ihre „in alle Richtungen explodierenden Plots“ (Frankfurter Rundschau) liest sie an ebenjenen Wegbiegungen des Lebens auf, an denen ihre Figuren später ins Straucheln geraten. Und dann gären sie lange, lange in ihrem Kopf. Jedenfalls meistens: Gerade hat Anja Hilling im Auftrag des „schauspielhannover“ ein Stück über einen Waldbrand fertig gestellt, ein Thema, worauf sie durch einen Zeitungsartikel gekommen ist – zum allerersten Mal. Nun, eigentlich hätten die Leute in Hannover an ganz andere Themen gedacht, sagt sie, aber ihr Waldbrand war dann auch okay.

Dass ihre Situation zurzeit privilegiert ist, weiß Anja Hilling selbst. Ihre Stücke werden so stark nachgefragt, dass sie schreiben kann, was sie will. Sie kann es sich leisten, Fernseh-Porträts zu verschmähen, und kann sogar vom Schreiben leben. In der Kneipe jobbt sie aber immer noch zweimal die Woche: Vor allem wegen des schönen Gefühls, das Worte wie „Feierabend“ und „Schichtwechsel“ mit sich bringen.

Für eine Schauspielschule in Frankreich schreibt die Erfolgsdramatikerin zurzeit fünf Dialoge über die fünf Sinne. Doch diesmal legt sie das Ganze erst als Erzählung an, „bevor alles wieder in die Form rutscht“, bei der das Schreiben für sie sonst beginnt. Knapp und klar umrissen, aber auch vieldeutig und offen – so könnte man Anja Hillings Stil charakterisieren: „Sie singt ein Lied von einem langen Tag, verbracht mit finsterem Herzen“, heißt es in „Engel“, „so wie Heather Nova ‚Gloomy sunday‘ singen würde, und zwar genau vier Minuten und neun Sekunden lang.“

Ist das nun Prosa oder Dramatik, Monolog oder Szenenanweisung? Oder ist es gar Zynismus? Nein, sagt Anja Hilling, mit Zynikern könne sie nichts anfangen. Sie findet es schön, dass ihre Figuren Glückssucher sind, „dass sie es wenigstens versuchen“. Ist es denn ihre Schuld, dass es für einige zynisch klingt, wenn die arme Lucy zwischen zwei blutigen Hustern bemerkt: „Atmen hat mich noch nie glücklich gemacht“?