Du bist schwer in Ordnung

Dysfunktion macht Spaß: Mike Mills’ Spielfilmdebüt „Thumbsucker – Bleib wie du bist!“

Unser Junge ist 17 und lutscht immer noch den Daumen oder so. Mit dem stimmt doch was nicht! – Ich bin zwar schon aus dem Alter raus, aber ich kann mich gut dran erinnern, wie ich mir sagte: Mit mir stimmt was nicht. Und mich verwirrte. Pädagogische und therapeutische Maßnahmen der Reihe nach. Nichts half. Hätte ich doch, statt herumzufragen, wie man das macht, normal zu sein, hätte ich doch diesen genialen Film „Thumbsucker“ gesehen! Er ist von der Art der Musikvideos, bei denen man hinhört und gegenseitig den Text rauspuzzelt, weil der einen was angeht und weil man sich wiedererkennt, nur dort und nicht bei Eltern, Schule, Obermackern: Zoo Woman, Divine Comedy, Everything but the Girl, Les Rythmes Digitales, Moby.

Regisseur dieser Videos war Mike Mills, und „Thumbsucker“ ist sein erster Spielfilm. Angefangen hatte er im Alter von 17 Jahren mit der Kunst des Skateboarding. Damit ich nicht alles verwirre, stelle ich klar, dass der Daumenlutscherfilm ein echter Spielfilm ist mit tollen Dialogen, klarer Handlung und super Schauspielern, die zwar nicht skaten, aber auf Füßen gehen. Und doch ist alles anders als in den üblichen Beziehungs- und Problemfilmen, die in die Tiefe ziehen.

Im Ernst also: „Thumbsucker“ zu sehen macht Spaß. Keine der vielen Szenen ist vorherzusehen. Und wer sich wiedererkennt, steht unversehens jemandem gegenüber, der es sagt: Give me five, und: Du bist schwer in Ordnung. Wenn der Film mit der Frage endet: „Wo ist das Problem?“, ist er selbst die Antwort auf das, was sich verwirrte junge Leute fragen, nämlich anders werden zu müssen, als man ist. Also nuckel dir einen ab oder wie auch immer. Das gehört zu dir. Bis es so weit ist, erlebt der junge Held Justin Cobb, gespielt vom verwirrend präsenten Lou Pucci (Silberner Bär 2005, Jurypreis des Sundance Film Festival), diverse Situationen, die ihn weiterbringen. Wäre es kein Film, wär’s vor 150 Jahren ein Entwicklungsroman gewesen. Im Film des 17-Jahre-Empathikers Mike Mills ist das MFCS-Syndrom der Start (Mother Fucking Cock Sucker). Orangensafttüten lassen sich dann nur öffnen, wenn man sich mit klebrigem Saft bekleckert. Eine medikamentöse Behandlung ist angezeigt. Das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom lässt sich so in eine angenehm manische Phase mit gesteigertem Selbstwertgefühl verwandeln.

Der Film schneidet wunderschöne bunte Tafeln in die Verhaltensstörung, die schlüssig beweisen, dass dem Medikament Ritalin nur drei Moleküle zum Speed fehlen. Lieber was anderes versuchen? Dr. Perry Lyman (Keanu Reeves), New-Age-Fan und Kieferorthopäde, ist auch Hypnotiseur. Im Behandlungszimmer eine rauchen findet er okay. Ein Schlückchen darf doch mal sein. Keanu Reeves, völlig daneben, führt die Enddreißiger an, die doch die Normalität verkörpern sollen wie Eltern und Lehrer. Ja, nun, verwirrt auch sie. Das hat Witz, wie der Film, wie immer unvorhergesehen, das Normale kippt. Eindrucks- und geheimnisvoll Tilda Swinton als Mutter, die ihren Daumenlutschersohn an sich bindet. Gehen wir aus? Ist das Kleid nicht toll? Justin findet sie peinlich, und sie scheint auf dem Sprung: Wer bin ich? Wo bin ich? Was mache ich hier? – Wie wär’s, man liebt sie grade wegen ihrer Macken? Der Film kommt genau dahin.

Sohn Justin versucht es zwischendurch mit Pot und Sex. Das coole Mädchen verbindet ihm dabei uncool die Augen. Lieber der Ärztin danken: „Sie hat mir einen Löffel aus dem Hintern geholt – ohne Vaseline.“ Euphorie! Fantastische Visionen einer bonbonsüßen Normalowelt. Ein unüberbietbarer Werbespot, mit dem sich unser Regisseur, zuvor auch Werbespotprofi, einbringt. Letztes Wort des Films: „Die Kunst ist, ohne Antwort zu leben.“ Sei wie du bist, alles, was du ändern wolltest/solltest, inklusive. Und lutsch weiter den Daumen. DIETRICH KUHLBRODT

„Thumbsucker – Bleib wie du bist!“, Regie: Mike Mills. Mit Lou Pucci, Tilda Swinton u. a., USA 2005, 94 Min.