Am Anfang war die Teilung

Hannah Arendt hat in Gegensätzen gedacht, weil sie von den Totalitarismen und vom Kalten Krieg geprägt war. Deshalb konnte sie die Veränderungen einer sich globalisierenden Welt nicht begreifen. Wie also lässt sich die Philosophin mit Blick auf die Gegenwart verorten? Eine kritische Würdigung

Bei aller Radikalität ihrer Diagnosezur Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht, blieb die PhilosophinHannah Arendt indes ratlos

von MICHA BRUMLIK

1961 beobachtete Hannah Arendt in Jerusalem den am 11. April eröffneten Prozess gegen Adolf Eichmann – einen Tag nach der Eröffnung, am 12. April, umrundete Juri Gagarin in einer Raumkapsel die Erde und sah die Welt so, wie sie nie zuvor ein Mensch gesehen hatte und wie wir sie heute, dank neuester Elektronik, alle sehen können.

Ansichten, Bilder der Welt waren stets mehr als nur geografische Informationsmittel, nämlich allemal auch Ausdruck einer politischen Selbstverständigung und -bestätigung. Das gilt für mittelalterliche Karten, auf denen Jerusalem als Herz der Welt verzeichnet ist, ebenso wie für jene vertrauten Darstellungen in Schulatlanten, in denen ein im Maßstab überdimensioniertes Europa mittig zwischen den Amerikas und der asiatischen Landmasse liegt. Seit kurzem nun eröffnet das Internet jedem Menschen die Chance, diese Welt als dreidimensionalen Erdball aus der Perspektive des Alls zu betrachten und sie virtuell zu bereisen. Mit „Google Earth“ ist die technische Möglichkeit gegeben, die begrenzte und bewohnte Kugel der Erde als die physische und soziale Basis menschlicher Existenz wahrzunehmen.

Als Hannah Arendt ihr Buch „The human condition“, das auf Deutsch unter dem Titel „Vita activa“ erschien, 1958 publizierte, hatten sowjetische Panzer zwei Jahre zuvor den ungarischen Aufstand niedergeschlagen und die sowjetische Raumfahrt 1957 den ersten Sputnik auf eine Erdumrundung geschickt. Arendt zögert in den einleitenden Bemerkungen zu ihrem Buch nicht, den Beginn des Raumfahrtalters als den Anfang einer „Flucht von der Erde ins Universum“ zu charakterisieren. Die 1906 in der Nähe von Hannover geborene und in Königsberg groß gewordene Philosophin starb 1975 in ihrer Wohnung in New York. Ihr Tod fiel in eine Zeit, in der die USA sich 1973 schmählich aus Vietnam zurückgezogen, Ägypten und Israel nach dem Jom-Kippur-Krieg einen förmlichen Frieden geschlossen hatten; in Teheran regierte noch der Schah, während Nato und Warschauer Pakt das nukleare Wettrüsten fortsetzten.

Die Welt, in der Arendt lebte und dachte, war die gespaltene Welt des Kalten Krieges, eine nachtotalitäre Welt, in der nach ihrer Überzeugung die USA das politische Prinzip einer gegründeten Freiheit gegen die Zumutungen einer vor allem auf die Abschaffung materieller Not zielenden Despotie, verkörpert durch das Sowjetsystem, verteidigten. In dieser Zweiteilung kam nach Arendts Überzeugung alles darauf an, sich jener Grundlagen zu versichern, auf denen die politische, die Welt der Freiheit beruhte. Die Welt der Menschen – etwa in ökologischer Perspektive – als bewohnte Erdkugel zu verstehen, wäre nach Hannah Arendt nicht nur naiv, sondern grundfalsch gewesen. Zumal sie unter „Welt“ gerade nicht die Gesamtheit aller die Menschen betreffenden Angelegenheiten verstand. Stattdessen dachte Arendt Welt als jenen auf wechselseitiger Wahrnehmung beruhenden öffentlichen Raum, in dem die Mitglieder eines begrenzten Gemeinwesens einander gegenübertreten, um sich wetteifernd gemeinsame Ziele zu setzen.

In dieser Situation des Kalten Krieges sah sich Arendt stets aufs Neue bemüßigt, die Grundlagen eines Freiheitsverständnisses zu verdeutlichen, das seinen treffendsten Ausdruck in der von ihr immer wieder bemühten Parole „Der Sinn von Politik ist Freiheit“ findet. Die Theorie, mit der dieses Credo begründet wird, operiert – den Verhältnissen des Kalten Krieges entsprechend – vor allem mit Dichotomien. Indem Arendt kompromisslos „Freiheit“ von „Befreiung“, „Öffentlich“ von „Privat“, „Weltzugewandtheit“ von „Weltlosigkeit“ sowie „Politik“ von „Gesellschaft“ unterscheidet, votiert sie für ein normatives Selbstverständnis, das heute als „Republikanismus“ bezeichnet wird und in scharfem Gegensatz sowohl zu bürgerlich-liberalen als auch im weitesten (nicht parteipolitischen) Sinne sozialdemokratischen Vorstellungen von Politik steht.

Sowohl bürgerliche Freiheits- und Abwehrrechte als auch sozialstaatliche Teilhabegarantien sind für Arendt bestenfalls notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingungen eines politischen Zusammenlebens; einer Lebensform also, in der Menschen die in ihnen angelegten Möglichkeiten zur höchsten Entfaltung bringen, indem sie gemeinsam ihre kulturellen Traditionen je neu gründen und auf Dauer stellen. Arendts Frontstellung gegen bürgerlichen Liberalismus und alle Formen eines grundsätzlich sozialstaatlichen Politikverständnisses rührt aus ihrer historisch gewonnenen Überzeugung, dass beide sich lediglich an gesellschaftlichen, also grundsätzlich privaten Interessen ausrichten.

Die Position ist klar. Wie Arendt in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ entfaltet, befördert liberale Politik mit dem Überhandnehmen der bürgerlichen Gesellschaft und deren ungezügeltem Kapitalverkehr einen Imperialismus und damit Rassismus sowie Antisemitismus. Gleichwohl kann eine Politik, wie sie durch die Französische Revolution begründet wurde, auf Umwegen in Despotismus, die Wohlstandsdiktatur, führen – indem sie nämlich Befreiung mit Freiheit verwechselt und vor allem auf Glück, nicht aber auf Autonomie abzielt.

Anders als es dieser couragierte Habitus erwarten lässt, war Arendt in ihrem Denken dennoch eine Melancholikerin, die genau wusste, dass ihre Zeit abgelaufen war. Was sie als ihre normativen Ideale begriff, stellte vor allem Erinnerungsposten dar. So hatte Arendt schon nach dem Zweiten Weltkrieg verstanden, dass der einzige Kandidat für die institutionelle Umsetzung ihres politischen Ideals, der Nationalstaat, am Ende war: „Das bisher stärkste Bollwerk gegen die schrankenlose Herrschaft der bürgerlichen Gesellschaft, gegen die Ergreifung der Macht durch den Mob und die Einführung imperialistischer Politik in die Struktur der abendländischen Staaten ist“, so Arendt 1948, „der Nationalstaat gewesen. Seine Souveränität, die einst die Souveränität des Volkes selbst ausdrücken sollte, ist heute von allen Seiten bedroht.“

Inzwischen ist der souveräne Nationalstaat – so wäre anzufügen – auch durch die Globalisierung sowie die Entwicklung des Völkerrechts und der Menschenrechte grundsätzlich überholt. Und als ob Arendt von Marx dochmehr gelernt hätte, als sie zuzugeben bereit war, stellte sie in den einleitenden Bemerkungen zur „Human Condition“ fest, dass das, was „uns bevorsteht, die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft ist, der die Arbeit ausgegangen ist. Was könnte verhängnisvoller sein?“ Bei aller Radikalität der Diagnose bleibt die Philosophin ratlos: „Auf all diese Fragen, Sorgen und Probleme“, fügt sie in höchster Redlichkeit an, „weiß dies Buch keine Antwort.“

Warum konnte Arendt die weltgesellschaftlichen Entwicklungen verkennen? Woran lag es, dass sie die sozialen Emanzipationsbewegungen jenseits gewaltsamer Revolutionen missverstand? Der Grund für den methodologischen Nationalismus und die gesellschaftspolitische Ratlosigkeit liegt bereits in Arendts dichotomen Grundbegriffen. Da ist ihre strikte, von jeder Dialektik freie Unterscheidung von „Freiheit“ und „Befreiung“, die doch übersieht, dass kreatives, gemeinsames Handeln in der bürgerlichen Gesellschaft auch jenseits staatlicher Verfasstheit stattfand bzw. auch und gerade dort unterdrückt wurde. Anders als immer wieder behauptet, ist Arendt gerade keine Theoretikerin der Zivilgesellschaft. Zudem: brisante, ambivalente weltgesellschaftliche Entwicklungen wie die Entkolonialisierung und die nicht den atlantischen Mustern folgenden Formen der Modernisierung lassen sich bei strikter Entgegensetzung von „Freiheit“ und „Befreiung“ nicht analysieren.

An ihrer schroffen Scheidung von „Öffentlichkeit“ und „Privatheit“ lag es auch, dass Arendt kein Sensorium für einen mehr denn je aktuellen Feminismus entfalten konnte. Und mit der Gegenüberstellung von „Weltzugewandtheit“ und „Weltlosigkeit“ verkennt sie wiederum, über was für eine bedeutende negative und damit gerade weltbildende Kraft die Religionen verfügen. Sie sind es, die individuelle und kollektive Bewegungen transzendieren und bündeln. Trotz ihres bewussten Judentums und ihrer intensiven Vertrautheit mit dem antiken Christentum hat sich Arendt jede Chance genommen, die Bedeutung der jüdisch-christlichen Tradition für das politische Denken des Abendlandes zu verstehen.

Auf Arendts Spuren ist es unmöglich, die mehr oder minder dramatischen westlichen Wertedebatten nachzuvollziehen bzw. den religiös-kulturellen Dialog mit dem Islam auch nur zu beginnen. Und wenn sie „Gesellschaft“ der „Politik“ fast ausschließlich als Gefahrenquelle entgegensetzt, benimmt sich Arendt zuletzt der Chance, überhaupt danach zu fragen, unter welchen Bedingungen denn Verfassungen der Freiheit (zumal im Rahmen der sich herausbildenden Weltgesellschaft) möglich sind – und verrät damit in paradoxer Weise das eigene Ideal.

Die große Citoyenne, der „citizen“ Hannah Arendt sollte uns für die gönnerhafte Bemerkung, dass sie nach wie vor wenigstens die richtigen Fragen stellt, zu schade sein. „Philosophie ist“, wie Hegel festgestellt hat, „ihre Zeit in Gedanken gefasst.“ Diese Wahrheit trifft das Werk, nicht die Person Hannah Arendts, die in der finsteren Zeit des Kalten Krieges eine, nämlich die griechische Quelle der westlichen Kultur wieder zum Sprudeln gebracht hat. In einer Weltgesellschaft jedoch, die sich im elektronischen Globus von „Google Earth“ spiegelt, fällt sie in den Schatten dieser Tradition zurück.

Am kommenden Samstag wäre Hannah Arendt 100 Jahre alt geworden. Anlässlich des Jubiläums veranstaltet die Heinrich Böll Stiftung dieses Wochenende in Berlin den Kongress „Verborgene Tradition – unzeitgemäße Aktualität?“, bei dem Micha Brumlik heute Abend Podiumsgast ist (www.boell.de).