Gering bestoßen, etwas beschabt

Buchmessern (III): Das große Thema für den Herbst fehlt, aber antiquarische Kafka-Ausgaben sind auch nicht schlecht

Zum Ende der Woche hin entwickelt sich die Buchmesse zu einer Veranstaltung der zwei Geschwindigkeiten. Die eine Besuchergruppe eilt immer zielstrebiger durch die Messegänge – sie ist schon seit Tagen da, hat die wichtigen Neuerscheinungen längst in Händen gehalten, den Verlagsmitarbeitern schon bei irgendeinem Empfang zugeprostet und will nur noch zum nächsten Termin, um auch den abhaken zu können. Die zweite Besuchergruppe aber ist gerade angekommen; sie bleibt stehen, um eingehend einzelne Bücher zu begutachten, schlendert ein, zwei Schritte weiter, bleibt wieder stehen, weil sie irgendwo einen Promi ausgemacht hat (bisher die unübersehbarste: Claudia Roth, deren roter Haarschopf sich stundenlang wie ein Hüpfball im Stand des Aufbau Verlags bewegte).

Zwischen den hochgetunten Profis und den langsamen Besuchern kann es zu Kollisionen kommen. Es gibt aber auch ein friedliches Nebeneinander von Vorwärtsdrang und träger Beharrlichkeit, und zwar in Halle 4.0. Dort befindet sich die Antiquariatsmesse, ritterburgartig innerhalb der Halle noch von gesonderten Wänden umgeben; und man muss seine Taschen abgeben, bevor man sie betritt: wertvolle Erstausgaben warten! Zum Beispiel ein Exemplar der zweibändigen Ausgabe der „Buddenbrooks“ von 1901 („gering bestoßen, Kanten etwas beschabt“) für 9.800 Euro. Oder man freut sich über Kafkas „Ein Landarzt“ („Rücken aufgehellt, die Deckel etwas lichtrandig“) für 1.500 Euro. Wie von selbst verlangsamen sind da die Schritte, und überhaupt strahlt hier alles große Ruhe aus. Wobei die neben ihren prunkvollen Ausstellungsstücken sitzenden Antiquare allesamt gründliche und hochkonzentrierte Leser der Literaturbeilagen zu sein scheinen.

Dann verlässt man den abgegrenzten Bereich wieder und stößt sofort auf einen Stand mit marktschreierischer Aufschrift: „Die ganze Welt des Fulfillments“. Der übrige Teil der Halle ist nämlich der technischen Seite des Buchgeschäfts gewidmet: Computergesteuerte Verlagsauslieferungsverfahren, Book on Demand, flächendeckende Nutzerprofilerstellung (oder so ähnlich). Schneidige Männer zeigen, neben ihren Laptops stehend, was sie draufhaben.

Wer auch immer dafür gesorgt hat, dass Antiquitäten und High-Tech so hart aufeinanderstoßen, er hat ein gutes Werk getan. Die wichtigen Neuerscheinungen mögen sich in den Hallen 3.0, 3.1 und 4.1 finden. Aber diese Halle 4.0 ist etwas ganz Besonderes: eine Reise durch ein halbes Jahrtausend Buchkultur im Zeitraffer und der Traum eines jeden, der über die Komplexität und Differenziertheit der Gegenwart staunen kann. Denn die technische Entwicklung bringt überholte Kulturtechniken ja nicht ganz zum Verschwinden. Mit welcher Rührung man auf handkolorierte Körperatlanten aus dem 18. Jahrhundert blickt, wenn man sich gerade zuvor über die Möglichkeiten neuester Software fürs Desktop-Publishing informiert hat, ist nicht zu beschreiben.

Ansonsten geht die Buchmesse ihren Gang. Grass kommt, Wickert geht, und achselzuckend stellt man in vielen Gesprächen fest, dass es das eine große Thema der Messe immer noch nicht gibt. Dafür gibt es inzwischen wenigstens eine ästhetische Kontroverse, über die man reden kann. Ulrich Greiner hat Thomas Hettches Roman „Woraus wir gemacht sind“ in der aktuellen Zeit gegen die Verrisse von Thomas Steinfeld (in der SZ) und Gerrit Bartels (taz vom 16. 9.) verteidigt. Vielleicht tröstet das Thomas Hettche über den entgangenen Buchpreis hinweg: Sein Roman ist das Buch der Saison, zu dem man eine Meinung haben muss. Auf dieser themenentleerten Messe ist das schon was.

DIRK KNIPPHALS