bücher für randgruppen
: Eine Frage der Kultur: Wie lange braucht eine Burka, um zum Minirock zu werden?

Antwort: Exakt 500 Jahre. Das wären – je nach Beinlänge – etwa zwölf bis zwanzig Zentimeter pro Jahrhundert. Im Tagesspiegel stellte soeben Christoph Schlingensief fest: „Wir können von einer Kultur, die 500 Jahre jünger ist als das Christentum, nicht verlangen: Burka aus, Minirock an, bitte schnell. Ich kenne das aus Afrika …“ und so weiter. Meinte unser „Skandalregisseur“ (Bild) mit den 500 Jahren Kultur jetzt unsere Kolonialzeit, die uns gewaltigen Vorsprung gegenüber dem Islam verschafft hat?

Die Christenheit – lange schien sie in zahllose Individualisten gespalten – findet sich endlich vereint im Bewusstsein großer Überlegenheit. Wir sind nicht nur Papst, wir sind außerdem aufgeklärt, tragen Miniröcke und sind etwa 500, wahlweise 622 Jahre weiter als die anderen. Vom Heiligen Vater in Rom über George Bush bis zu den Führungsbunkern des rebellisch maskierten Bürgertums – überall herrscht Konsens. Die von sexuellen Verklemmungen jäh befreite CDU kann mit einer Kanzlerin aus protestantischem Pfarrershaus endlich prüde Muslime in Einbürgerungsformularen fragen, ob sie etwas gegen Schwule oder gleichberechtigte Frauen hätten.

In dieser stickigen Atmosphäre wirkt das 1555 erschienene Buch von Olaus Magnus, des letzten katholischen Bischofs aus Uppsala, wie ein erfrischendes Gegengift. Dieser hatte seinerzeit auch ein kulturelles Vermittlungsproblem – genau andersherum. Aus dem protestantischen Schweden war er ins italienische Exil geflüchtet. Dort verfasste er eine „Beschreibung der Völker des Nordens“. Mit dieser wollte er seinen Zeitgenossen einen Überblick über ebendiese Völker, über ihre Kultiviertheit und Zivilisiertheit geben. Im übrigen Europa galten die Bewohner des Nordens nämlich seinerzeit als besonders rückständig. Die Gegenden, in denen sie lebten, waren teilweise noch unbekannter als Afrika.

Olaus beschreibt nun aus antiken Quellen die Wanderung der Goten, der Ur-Skandinavier, im 6. Jahrhundert in den Süden Europas. Die „gotische Schrift“, also die Runen, führt er als Beleg ihrer hohen Kultur an. Er schildert nicht nur die Sitten und Gebräuche der Bewohner, sondern erwähnt auch diverse Alltäglichkeiten und Wunderlichkeiten. Das reicht von einer Schneeballschlacht bis hin zu Merkwürdigkeiten wie den zwanzig Arten des Schnees. Natürlich gibt es auch eine Menge an unerhörtem Fabelwerk – Exotismus des Nordens. So werden die heidnischen Zeremonien der Lappen beschrieben wie auch die magische Kunst der Finnen, die Handel mit Wind treiben. Die mit den Original-Holzschnitten geschmückte bibliophile Ausgabe enthält eine ausführliche Einleitung von Elena Balzamo und Reinhard Kaiser. Anschaulich folgen sie dem Werdegang des Autors und verbinden damit die Frage nach seinem kulturellen und gesellschaftlichen Umfeld. Zudem ist zu erfahren, dass der Gedanke, dass die Lappen ihren Namen von ihrer „läppischen Art“ haben, nicht etwa von Olaus Magnus selbst stammt, sondern von dessen deutschem Übersetzer.

Im fein gestalteten Werk findet sich inliegend eine Reproduktion von Olaus Magnus’ lange verschollener, 1886 in München wiederentdeckter „Carta Marina“ aus dem Jahr 1539. Die Karte zeigt die skandinavischen Länder inklusive Island, ein bisschen Baltikum, die Phantominsel Thule und Norddeutschland. Übrigens: Während in Olaus Magnus’ Buch die Isländer 1555 noch als „ziemlich gute Christen“ bezeichnet werden, mutieren sie in Diethmar Blefkens Island-Reisebeschreibung von 1607 bereits wieder zu „gottlosen Wesen“. Sie „schreien wie die Schweine“, wenn sie während des Essens auf den Boden urinieren. Wir lernen: Manchmal reichen schon 50 Jahre für den kompletten Kleiderwechsel – vom Minirock zur Burka und zurück. WOLFGANG MÜLLER

Olaus Magnus: „Die Wunder des Nordens“. Die Andere Bibliothek, Frankfurt a. M. 2006, 384 Seiten, 32 Euro Diethmar Blefkens Islandreise, in: „Megisers, Neue Nordwelt“. Verbrecher Verlag 2004, 192 Seiten, 7 Euro