Das Paradies der Umgeschulten

Der Dramatiker Roland Schimmelpfennig lässt alle Hoffnung fahren und schickt die Boheme in die Produktion, wenn sie den Charme der Jugend verloren hat. In Nicolas Stemanns Wiener Uraufführung von „Ende und Anfang“ wissen gerade die älteren Schauspieler am besten mit diesem Text umzugehen

VON UWE MATTHEISS

Hat eigentlich schon mal jemand darüber nachgedacht, ob und wie man in der freien Szene alt werden kann? Peter (Sebastian Rudolph) ist Mitte vierzig, war Schauspieler und auch irgendwie erfolgreich. Jetzt schlägt jene Verwertungslogik, unter die er sich in seinem früheren Leben als intellektueller Arbeiter so schmiegend fügte, dass er das Ganze für Autonomie hielt, auch in die äußeren Form durch. Pharmaindustrie oder Ähnliches, Tierversuchslabor, Umschulung zur Technischen Hilfskraft, der Wirtschaftsstandort Deutschland braucht das Formbare.

Isabel (Myriam Schröder) ist schon dort, war auch Schauspielerin, ist schon umgeschult und abgefunden. Und damit zielt „Ende und Anfang“, ein „Dramatisches Gedicht“, wie Roland Schimmelpfennig sein am Wiener Akademietheater in der Regie von Nicolas Stemann uraufgeführtes Stück nennt, deutlich auch auf den eigenen Betrieb. Isabel hatte den Hausschlüssel verloren und auf freiem Feld genächtigt zwischen den Vögeln und Tieren, die der Herr doch nährt, auch wenn sie nicht Schätze sammeln und sorgen – oder wenigstens der Arbeitsagentur zur Verfügung stehen. Isabel ist, so will es der dramaturgische Zwischenhopser, Peters Halbschwester, die er ewig nicht gesehen hat. Aneinander erkennen sie, wie sehr sie sich selbst nicht mehr erkennen im Leben.

Schimmelpfennigs Figuren reichern sich über die beachtliche Stückfrequenz des Autors mit gesellschaftlicher Erfahrung an. In „Push up 1–3“ traten alerte Selbstunternehmerschnösel beiderlei Geschlechts gegeneinander an und bereinigten den Markt von allem, was sich auf Selbsterhaltung nicht genügend verstand. Ein paar Krisen und ein paar Stücke später gehen noch mehr intellektuelle Arbeiter zu Fuß; und die lukrativen Drehtage, die freien SchauspielerInnen das freie Schauspielen lange möglich gemacht hatten, werden seltener. „Und ich bekam andere Rollen angeboten, immer low budget, aber ich konnte mich über Wasser halten“, sagt einer (Markus Hering), der eigentlich schon tot ist und, wie oft bei diesem Autor, als Wiedergänger und Todesbote durchs Bild geht.

Jene parasitär ans Kunstfeld angelagerte Innenstadtboheme hat es die letzten Jahre empfindlich zu Boden gehauen. Nach dem marktradikalen K.-o.-Schlag kommt eine dumpfe Ahnung von Geschichte – das jähe Empfinden, dem Werden und Vergehen anzugehören, und das schon, als man sich noch stark fühlte: „Sag du es mir: / Welches war der Augenblick, / der Wendepunkt, / die unbemerkte Veränderung, / die unbemerkte Veränderung, / wann war die Stunde, / wenn es nicht nur / eine Minute war, / nur eine einzige Minute, / in der das Unglück seinen Anfang nahm, / in der der Lauf des Lebens / aus der Bahn geriet.“

Peter und Isabel werden zu Adam und Eva, schauen wehmütig in John Miltons Paradies und beklagen den Verlust dessen, was sie nicht kannten, als sie’s hatten. „Du warst nie besonders, du warst nie gut, du warst jung.“ Hier ist der Punkt, an dem ein großes Stück hätte beginnen können, das vielleicht doch mehr vom Verlorenen wissen will, als seine Figuren bereit sind preiszugeben.

Stattdessen jedoch geht die Vanitas-Dichtung in die Breite: Ein am Akademietheater deutlich verwienerter B’suff (Philipp Hochmair) lernt am Würstlstand fliegen, ein Hochschullehrer (Rudolf Melichar) besiegelt die „verkackte akademische Karriere“, indem er seiner Studentin (Stefanie Dvorak) „Befriedigung“ statt „befriedigend“ testiert, eine Witwe aus Workuta (Bibiana Zeller) sucht nach einem halben Jahrhundert ihren verflossenen Geliebten (Hermann Scheidleder). Wir sind nur eine Träne im Ozean der Warenzirkulation und Sterben ist doppelt schmerzlich, wenn sich zuvor das Gefühl einstellt, nicht gelebt zu haben.

Die Einladung an eine Regie, an diesem „Dramatischen Gedicht“ mit feinem Ohr mitzumusizieren, lässt Regisseur Stemann über weite Strecken verhallen und müht sich stattdessen an einem Nichtbebildern ab, das gerade dadurch wie brav dem Text hinterhergepinselt wirkt. Regieanweisungen, die immer wieder in die Sprechstimmen einfließen, kommen in der Text-Bild-Verdopplung über den Beamer oder werden chorisch geschmettert – im Dunkeln bleibt, auf welche kollektive Erfahrung dieses Sprechen rekurriert. Als Einzelstimme sind die acteurs durchweg gehalten, auf Angriff nach vorne zu agieren.

Verblüffend bei all diesen Tricks und Finessen ist, dass die Kunst des antiillusionistischen Spiels fast durchgängig nur den ältesten, über 70-jährigen Schauspielern zu Verfügung steht. So sind es Rudolf Melichar und Bibiana Zeller, die etwas durch Sprache behaupten, ohne es sogleich mit lebensweltlichem Müll aufzufüllen und in den Appeal von Castingshows zu verfallen. Das Ich-AG-Wesen, dem der Text doch an den Kragen will, lässt sich aber mit den eigenen Mitteln nicht schlagen.