Weniger Demokratie wagen

In der Berliner Humboldt-Uni wünschen sich Heinz Bude und Herfried Münkler mehr Normalität – und entwickeln ein gewöhnungsbedürftiges Szenario der Berliner Republik

Normalisierung erscheint in dieser Lesart wie eine Rutschbahn, bei der niemand mehr Stopp sagen kann

Die Bundesrepublik ist, so ein gängiges Erklärungsmuster, endgültig im Westen angekommen. Aus dem Provisorium der Bonner Republik ist seit 1990 ein normaler Nationalstaat mit akzeptierten Grenzen geworden, in dem die unheilvollen deutschen Sonderwege des 19. und 20 Jahrhunderts ihr glückliches Ende gefunden haben.

So kann man es sehen. Allerdings beginnen die Begriffe zu flirren, wenn man präziser hinschaut. Wo genau liegt die Berliner Republik? Folgt man dem Soziologen Heinz Bude – dann ziemlich weit von Bonn entfernt. Bude machte bei einer Konferenz in der Berliner Humboldt Universität über „Wege in die Bundesrepublik“ fundamentale Bruchlinien aus, die die neue von der alten Bundesrepublik trennen. So ist der bundesdeutsche Korporatismus, das „Modell Deutschland“ der 70er-Jahre, ein Auslaufmodell. Auch die Arbeitnehmergesellschaft, in der Arbeit das für jedermann erreichbare Eintrittsticket in die Gesellschaft war, ist perdu. Zudem verschwindet die „vergangenheitspolitische Selbstbindung der Bonner Republik“ (Bude), die Fixierung auf Auschwitz verblasst.

Das klingt einleuchtender als es ist. Herfried Münkler konterte mit der plausiblen Gegenfrage, ob es all dies nicht auch ohne 1989 gäbe. Die Krise der Arbeitsgesellschaft und des rheinischen Kapitalismus sind durch die Vereinigung beschleunigt worden, ihre Ursache war sie nicht. Und die Entdramatisierung der NS-Zeit ist eine Folge des Generationswechsels, nicht von 1989. Die Kontinuitätslinien zwischen Bonner und Berliner Republik sind unauffälliger, aber kräftiger als die Bruchlinien – ein Befund, der Trendforschern wie Bude nicht in den Kram passt.

Dass in der Berliner Republik viel Bonn steckt, steht auch quer zu Träumen von einem vollständig normalisierten deutschen Nationalstaat. Deutlich klang dies bei dem konservativen Zeithistoriker Hans Peter Schwarz an, der sich über die „entkernte Souveränität“ Deutschlands grämt. Das vereinte Deutschland habe in den 90ern seine neu gewonnene Souveränität nach Europa entsorgt. Schuld daran sei, so Schwarz, Helmut Kohl, der – offenbar unter den Suggestionen des linken, nationalskeptischen Zeitgeistes – die Wiedervereinigung und die forcierte Entwicklung der EU für zwei Seiten einer Medaille hielt.

So stand die These im Raum, dass die Republik immer noch auf der Flucht vor sich selbst sei. Außenpolitisch sei Deutschland, so eine oft benutzte Metapher, aus dem „Schatten der Weltgeschichte“ getreten. Mental aber stecke sie, allen Auslandseinsätzen der Bundeswehr zum Trotz, misslicherweise weiter in der Bonner Republik. Diese Generalthese illustrierte Manfred Hettling, der die militärische Totenehrung in der Bundesrepublik untersuchte. Die Bundeswehr habe keine nennenswerte eigene Tradition dazu hervorgebracht. Das lag auch daran, dass Totenehrung ein durch die NS-Geschichte kontaminiertes Gebiet war. Für Selbstrepräsentation war in der alten, symbolarmen Bundesrepublik wenig Platz. Entsprechend kühl definierte Wolf Graf Baudissin, der den Soldaten als „Staatsbürger in Uniform“ entworfen hatte, den Tod als eine „Nebenfolge des Auftrags“. Das, so Hettling, muss sich nun ändern. Es sei unredlich, den Tod von Soldaten verschämt zu „verschweigen“. Auch in einer Demokratie müsse die Gesellschaft Soldaten, die sie in den Tod schickt, ehren.

Aber auch das klingt einleuchtender als es ist: Warum soll es ein Denkmal für Soldaten geben, warum keines für zivile Opfer von Auslandseinsätzen? Müssen Soldaten anders behandelt werden als Polizisten, die gleichfalls gelegentlich ihr Leben für die Allgemeinheit riskieren? Doch wer so fragt, outet sich als mentaler Anhänger der Bonner Republik.

In der Debatte regierte mehr oder weniger laut ein Bedauern, dass Deutschland noch immer kein normaler Machtstaat ist. Schuld daran trägt offenkundig die hartnäckige linksliberale Kultur der alten Bundesrepublik – chiffriert durch den Namen Jürgen Habermas, der als intellektuelle Leitfigur mehrfach verabschiedet wurde. Nur Jan-Werner Müller wagte eine Verteidigung des Habermas’schen Konzepts eines Verfassungspatriotismus.

Das konservative Unbehagen in dieser lästigen linksliberalen Kultur brachten schließlich Münkler und Bude auf den Punkt. Beide wünschten sich einen abgeschotteten Raum, in dem endlich frank und frei das nationale außenpolitische Interesse debattiert werden kann – ungestört von der Öffentlichkeit, aber dafür vermutlich mit zentraler Beteiligung deutscher Professoren. Auch dass das Parlament umständlich über Bundeswehreinsätze befindet, hat, so Münkler, keine Zukunft. Das „nationale Interesse“ scheint dabei ein neuer Mythos zu werden: Alle reden drüber, keiner weiß genau, was gemeint ist.

Die Berliner Republik müssen wir uns in diesem Szenario als eine vorstellen, in der Denkmäler für Soldaten normal sind, die Regierung die schnelle Eingreiftruppe dirigiert, während deutsche Professoren hinter verschlossenen Türen die nächsten Operationsgebiete ins Visier nehmen. Weniger Demokratie wagen, so die Idee. Normalisierung erscheint in diesem Bild wie eine Rutschbahn, bei der niemand mehr Stopp sagen kann. Eine gewöhnungsbedürftige Vorstellung. STEFAN REINECKE