Empörung über den Vorschlag eint die Türkei

In der Türkei stößt das französische Vorhaben auf Unverständnis und Ablehnung – auch unter den Armeniern. Erdogan nennt Genozid Lüge

ISTANBUL taz ■ „Was treibt die Erben von Voltaire und Rousseau, was treibt gerade die Französische Republik, die doch jahrzehntelang unser größtes Vorbild war, uns das anzutun?“, fragte gestern der kemalistische Oppositionsführer Deniz Baykal im Parlament und konnte doch nur den Kopf schütteln. Dieselbe Frage stellt sich fast die gesamte Türkei und reagiert in einem Spektrum aus Verwunderung, Empörung und Resignation darüber, dass man in Westeuropa immer weniger Gehör findet.

Sollte das französische Parlament heute mehrheitlich dafür stimmen, dass „die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern“ künftig mit Haft bestraft wird, werden von 70 Millionen Türken wohl rund 69 Millionen zu potenziellen Kriminellen: Sollten sie in den Bereich der französischen Justiz kommen, kam man sie getrost einsperren, denn es ist davon auszugehen, dass sie von einem Völkermord an den Armeniern nicht überzeugt sind.

Selbst wenn im Westen eine breite Mehrheit der Meinung ist, dass die Massaker an den Armeniern in der Endphase des Osmanischen Reiches den Tatbestand des Völkermordes erfüllen, wird man die türkische Bevölkerung durch die Kriminalisierung der Leugnung kaum davon überzeugen können. Als Ministerpräsident Erdogan gestern im Parlament sagte: „Eine Lüge bleibt eine Lüge, auch wenn ein anderes Parlament etwas anderes beschließt“, konnte er sicher sein, die breite Mehrheit der Bevölkerung hinter sich zu haben. Gleichzeitig versuchte Erdogan aber, die höchsten Wellen der Empörung wieder zu glätten. Einen Vorschlag aus seiner eigenen Fraktion, quasi im Gegenzug die französischen Verbrechen in Algerien ebenfalls zum Völkermord zu erklären, lehnte er kategorisch ab. Trotzdem rief Erdogen die französischen Parlamentarier dazu auf, lieber erst einmal ihre eigene Kolonialgeschichte aufzuarbeiten, statt ihren Nachbarn ein Auge auszuhacken.

Tatsächlich würde ein solches Gesetz nicht nur die französisch-türkischen Beziehungen und den Handel zwischen beiden Ländern empfindlich schädigen – Erdogan droht damit, ein französisch-türkisches Rüstungsgeschäft zu kippen und französische Firmen vom Bieterverfahren für ein Atomkraftwerk auszuschließen – es trifft vor allem diejenigen demokratischen Kräfte in der Türkei, die seit Jahren versuchen, die Debatte um die Armenienfrage in die türkische Öffentlichkeit zu tragen. „Wie sollen wir zukünftig gegen Gesetze argumentieren, die uns verbieten, über einen Genozid zu reden, wenn Frankreich nun umgekehrt dasselbe tut?“, sagte Hrant Dink, einer der prominentesten armenischen Intellektuellen in Istanbul. Dink wurde erst kürzlich für einen Artikel in der armenisch-türkischen Wochenzeitung Agos, deren Chefredakteur er ist, wegen „Verunglimpfung des Türkentums“ verurteilt. Hrant Dink erklärte in einem Reuters-Interview, er fühle sich wie ein Pfand in einer irrationalen Auseinandersetzung zwischen zwei Staaten. Er kündigte an, als Erster nach Frankreich zu fahren und gegen das Gesetz zu verstoßen, sollte es verabschiedet werden.

Auch der armenische Patriarch in Istanbul, Mesrop Mutafyan, hat das Gesetzesvorhaben als schädlich für jeden Dialog und den Versuch, wechselseitiges Verständnis zu etablieren, bezeichnet. Nach Informationen des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Parlaments, Mehmet Dülger, soll sogar der armenische Präsident Robert Kocharian in einem Telefongespräch mit Jacques Chirac von dem Gesetz abgeraten haben. Man arbeite an praktischen Verbesserungen mit der Türkei, die dadurch zerstört werden könnten.

Neben der Öffnung der türkisch-armenischen Grenze betrifft das vor allem die vielen armenischen Jobber in der Türkei: Rund 70.000 Armenier, die in der Türkei arbeiten, weil es in Armenien nichts zu verdienen gibt, werden von der türkischen Regierung bislang stillschweigend als Schritt zur Normalisierung geduldet.

JÜRGEN GOTTSCHLICH