Zeit für eine Lega Sur

Die große Koalition ist gescheitert, doch was kommt nach ihr? Ein Blick nach Schweden, Italien oder die Niederlande gibt Aufschluss über die Zukunft des Parteiensystems

In Italien ist das alte System zusammengebrochen, in Holland sind die politischen Lager durchlässiger

Selten ist eine Lebenslüge so schnell aufgeflogen: „Große Koalitionen lösen große Probleme“, hieß es vor einem Jahr von Merkel bis Müntefering sowie in Spiegel, BamS und im TV. Weil die beiden Volksparteien im selben Boot säßen, könnten endlich die Strukturprobleme des Landes angegangen werden. Weil CDU und SPD in Bundestag und Bundesrat über breite Mehrheiten verfügten, könnten endlich notwendige, aber unpopuläre Reformen durchgesetzt werden.

Nun herrscht Katerstimmung. Die Föderalismusreform ist ein Flop, bei Hartz IV herrscht weiter Chaos. Die sozialen Unterschiede nehmen zu, die staatlichen Institutionen verlieren immer mehr Einfluss. Das Einzige, was die große Koalition zustande gebracht hat, ist die Mehrwertsteuererhöhung. Zukunftsorientierte Politik sieht anders aus.

Das Scheitern der Gesundheitsreform war die logische Konsequenz: Sie ist zwischen parteitaktischem Gezänk und föderalen Egoismen zerrieben worden. Die große Koalition besitzt kein gemeinsames Ziel und kein Gravitationszentrum. Noch nicht mal mehr um der Macht willen rauft sie sich zusammen. CDU und SPD tun so, als stünden Koalitionspartner für andere machtpolitische Farbenspiele Schlange. Dabei verfügt keiner von ihnen über eine realistische Exitstrategie.

Das politisches System steckt in einer tiefen Krise. Doch es ist billig, den Parteien daran die alleinige Schuld zugeben. An die Stelle des westdeutschen Kooperatismus ist eine neue Ungleichzeitigkeit getreten. Diese lähmt die Berliner Republik. Die Akteure der politischen Klasse, die Parteien, die Medien und die Lobbyisten agieren nicht mehr miteinander, sondern gegeneinander. Das Tempo der Berichterstattung wird immer schneller und der Druck, Schlagzeilen zu produzieren, größer. Gleichzeitig dominieren Lobbyisten jedweder Couleur rücksichtslos die veröffentlichte Meinung. Die Politik hingegen ist eine Schnecke: Die Meinungsbildungsprozesse in den Parteien sind zäh, die föderalen Entscheidungswege mühsam, die staatliche Bürokratien langsam.

Diese Ungleichzeitigkeit zerstört die Kommunikation. Parteien, Medien und Interessengruppen fallen als Transmissionsriemen gesellschaftlicher Willensbildung mehr und mehr aus. Das hat Folgen. Während die Medien im Wochentakt neue Taten oder Machtworte fordern und die Lobbyisten jede Reformidee zerreden, hat die Politiker eine Art Angststarre erfasst. Die Wähler stehen rat- und orientierungslos vor diesem Schauspiel und wenden sich mit Grausen ab.

Von der großen Koalition erwarten sich die Deutschen nichts mehr. Die CDU befindet sich in Umfragen im freien Fall, die SPD im Dauertief. Diese Abkehr von den Volksparteien ist allerdings mehr als der übliche demoskopische Abschwung zwischen zwei Bundestagswahlen. Immer mehr Menschen haben ihr Grundvertrauen in die Politik verloren, die traditionellen Parteienbindungen lösen sich auf. Die Lagerlogik, die durch die ideologischen Auseinandersetzungen des letzten Jahrhunderts geprägt würde, verfängt beim Wähler nicht mehr. Fast scheint es, als schleppte sich das letzte Aufgebot der rheinischen Demokratie durch die Berliner Republik. Nicht einmal die Opposition wird ihrer Verantwortung gerecht: Ampel, Jamaika oder Rot-Rot-Grün sind theoretisch möglich, praktisch aber nicht. Auch FDP, Grüne und Linkspartei können sich nicht aus der Lagerlogik befreien. Die FDP ist zur Rechtspartei mutiert, die Linkspartei profiliert sich als Protestpartei, und die Grünen trauern dem rot-grünen Projekt nach.

Wenn dies das Optimum an Politikfähigkeit des bundesdeutschen Politikmodells ist, dann ist dieses Modell am Ende, und es wird Zeit, ganz grundsätzlich zu fragen, was nach der großen Koalition kommen könnte: Ein Blick über die Grenzen kann dabei hilfreich sein. Denn viele europäische Länder haben ähnliche Entwicklungen durchgemacht. Traditionsreiche Parteien sind niedergegangen, neue politische Bewegungen entstanden. Nicht mehr die alten Volksparteien haben die neuen gesellschaftlichen Entwicklungen integriert, sondern neue politische Bewegungen. Vor allem drei europäische Trends sind dabei auszumachen: Rechtspopulisten haben Zulauf bekommen, wohlstandschauvinistische Regionalparteien wurden zum machtpolitischen Zünglein an der Waage, und liberale Bürgerrechtsparteien wurden gestärkt. Mit den Verschiebungen im Parteiensystem gingen instabile politische Systeme mit extremen Wählerwanderungen und häufigen Regierungswechseln einher. Vielleicht erlebt Deutschland auch hier demnächst eine europäische Normalisierung.

Vor allem Italien, die Niederlande und Schweden könnten dabei als Blaupause dienen. In Italien dominierten bis in die Neunzigerjahre hinein zwei Parteien die Nachkriegsszene. Innerhalb von wenigen Jahren brach das alte System zusammen, sowohl die sozialdemokratische PSI als auch die konservative DC lösten sich auf. Aus den Kommunisten wurden die neuen Sozialdemokraten, im rechten Lager übernahmen die Lega Norte und die Forza Italia das Sagen und dann die Macht. Gemeinsam schufen sie einen starken Staat und beschädigten die demokratischen Institutionen.

Der Trend in Europa geht zu regionalen Parteien, liberalen Bürgerrechtsparteien und Rechtspopulisten

Nun ist Deutschland nicht Italien, auch haben sich hiesige Politiker nicht mit der Mafia eingelassen. Und doch weisen der deutsche Parteienstaat und die italienische Partitocrazia Parallelen auf: Vertrauenskrise des politischen Systems, machtpolitische Blockade, ideenlose Regierungen und regionale Egoismen. Das politische Terrain für populistische Seiteneinsteiger und eine Lega Sur, für einen deutschen Berlusconi oder einen bayrisch-württembergischen Bossi ist bereitet. Im Osten sind die westdeutschen Volksparteien schon jetzt ein Minderheitenprogramm, und dieser Trend drängt in den Westen. Die Alternative zu italienischen Verhältnisse wäre das niederländische oder schwedische Modell. In den Niederlanden sind die politischen Lager durchlässig geworden, weil gleich mehrere Parteien ins linke wie ins rechte Lager koalitionsfähig sind. In Schweden hingegen sind Minderheitsregierungen seit Jahrzehnten eher die Regel als die Ausnahme.

Für das deutsche Sechs-Parteien-Systems hätte dieser Weg einen entscheidenden Vorteil: Nicht die Regierung, sondern das Parlament würde gestärkt, weil Kompromisse nicht mehr in nächtlichen Kungelrunden ausgehandelt würden. Auch der Einfluss der Ministerpräsidenten würde zurückgedrängt. Denn sie könnten erst in das Spiel eingreifen, wenn sie offiziell damit befasst werden, also im Vermittlungsausschuss.

Ob Italien, Niederlande oder Schweden: Es wird darauf ankommen, ob sich die politische Klasse besinnt oder ob sich die Demontage der politischen Institutionen fortsetzt. Wenn CDU und SPD so weitermachen, könnte sich dies schon bald entscheiden. Der Beifall zumindest, mit dem der SPD-Vorstand kürzlich die schlechten Umfrageergebnisse der CDU feierte, klang bereits wie das Orchester auf der „Titanic“. CHRISTOPH SEILS