„Es gibt mehr Freiheiten in der Arbeit“

Die Pariser Betriebswirtin und Soziologin Ève Chiapello hat den neuen Geist des Kapitalismus untersucht. Die neue Managementphilosophie macht mehr Selbstverwirklichung in der Arbeit möglich – und das Leben härter

taz: Frau Chiapello, ist der Künstler das neue Leitmodell des Wirtschaftslebens?

Ève Chiapello: Das Künstlerleben ist von jeher ein attraktives Modell der Lebensführung. Künstler führen, so sagt man, ein freies Leben und arbeiten selbstbestimmt. Deshalb galten sie lange als Alternative zum entfremdeten Leben. Man kann die Kritik am Kapitalismus, die sich gegen das Kommando in der Fabrik wendet, „Künstlerkritik“ nennen.

Und die ist heute selbst ins Management eingesickert?

Ja. Es gab zwei Kritiken am Kapitalismus: dass er erstens sozial ungerecht sei und dass er zweitens – das ist die Künstlerkritik – die Selbsttätigkeit der autonomen Subjekte unterdrücke. Mit der ersten Form von Kritik konnte das Management früher leichter umgehen: mit Lohnerhöhungen und sozialen Kompromissen. Mit der zweiten Art der Kritik war das schwieriger. Vor zwanzig Jahren wurde in der Management-Literatur betont, Freiheit und Kreativität hätten im Unternehmen keinen Platz. Das hat sich verändert, weil die Motivation der Beschäftigten sank. Und so wurde im Managementdiskurs zunehmend die Frage bedeutend, wie man die Motivation durch mehr Freiheit erhöht.

Man hat also die „Entfremdung“ bekämpft und musste dann auf die soziale Kritik nicht mehr so stark eingehen?

Es gab eine Art Abtausch: Sicherheit gegen Freiheit. Wir lassen mehr Freiheit und Selbstbestimmung zu, aber ihr werdet weniger Sicherheit haben.

Ist das wirklich ein Resultat der Kritik oder eine Folge der neuen Technologie, die eigenverantwortliche Mitarbeiter notwendig machte?

Ja, das spielt eine Rolle. Vor allem ermöglicht es die neue Technik, die Beschäftigten selbst dann effektiv zu kontrollieren, wenn sie mehr Freiheit in der Arbeit haben. Technologie war somit auch eine Voraussetzung für die Autonomie. Aber nichtsdestoweniger war wichtig, dass die Beschäftigten diesen Wandel wollten. Nur weil er auf ein Bedürfnis reagierte, konnte dieser Wandel so erfolgreich sein. Es ist also eine Kombination von neuer Technik und den Sehnsüchten der Leute.

Sie haben Ihr Buch „Der neue Geist des Kapitalismus“ genannt. Wie wichtig ist so ein „Geist“ für die reale Ökonomie? Strenge Materialisten wären da doch skeptisch …

Wenn die Leute sich engagieren sollen, brauchst du einen „Geist“. Schließlich sollen sie nicht nur Befehlen gehorchen, sondern „ihr Bestes“ geben.

Man soll den „Geist“ also nicht unterschätzen?

Eindeutig: ja! Man muss den Menschen plausibel machen, dass das Wirtschaftssystem nicht nur auf Ungleichheit und Unsicherheit beruht, sondern auch „positive Seiten“ hat. Die Unternehmen wollen ja keine resignierten Mitarbeiter, also mussten sie ihnen aufregende Arbeiten bieten, kurzum: Freiheit.

Heißt das, dass Arbeit im Kapitalismus heute weniger entfremdet ist als vor 30 Jahren?

Das kommt darauf an: Wenn wir uns nur die Abläufe in den Unternehmen ansehen, dann gibt es wohl weniger Entfremdung. Aber Menschen sind ja nicht nur Wirtschaftssubjekte. Man kann mit ebenso viel Recht sagen, vor dreißig Jahren hat man mit innerer Distanz fremdbestimmte Arbeit erledigt und hatte dann sein Leben jenseits des Berufs, das unentfremdet war …

während man heute seine gesamte Kreativität und auch die Affekte in der Firma einbringen soll, am besten 24 Stunden pro Tag. Also doch heute mehr Entfremdung?

Vielleicht sind die Begriffe unscharf geworden. Wenn man das karikaturhaft sagen will: In den Sechzigerjahren hat man die Leute wie Maschinen behandelt. Das ist heute anders. Andererseits gibt es heute keine Sehnsucht, keine Insel des Sozialen mehr, die nicht im kapitalistischen Prozess recycelt würde. Man muss zuallererst einmal diesen Wandel verstehen – und dann die Frage nach den heutigen Problemen stellen.

Die wären? Eine neue Art von Entfremdung und dass weniger auf Gleichheit Bedacht genommen wird, weil mehr auf Freiheit geachtet wird?

Mehr noch: Es ist ja nicht nur so, dass wegen des Freiheitsgewinns weniger auf soziale Bedrohungen geachtet wird. Es ist ja so, dass die Formen, in denen sich dieser Freiheitsgewinn realisiert, selbst neue Unsicherheit nach sich ziehen. Das ist schließlich das Geheimnis dessen, was wir „prekäre Verhältnisse“ nennen: Die vielen informellen, freien Organisationsformen von Arbeit bringen neue Formen der Unsicherheit. Deswegen wäre es aber dennoch falsch, den realen Freiheitsgewinn zu bestreiten.

Einen Weg zurück gibt es nicht?

Soll es auch nicht geben. Die Freiheitsgewinne sind ja real, nicht zuletzt für Frauen. Was wir brauchen, sind Formen, Sicherheit und Freiheit zu verbinden – das, worüber man heute unter der Formel „Flexecurity“ nachdenkt.

INTERVIEW: ROBERT MISIK