Esperanza tanzt Cha-Cha-Cha

Zwischen Lebenslust und Vergänglichkeit: Der Dokumentarfilm „Mañana al mar“ von Ines Thomsen blickt unaufgeregt und humorvoll auf Barcelonas Stadtstrand im Winter

Wenn Paulina sich schwerfällig aus den Wellen hebt, wird eine Venus geboren

„Wir sind die letzte Wintergeneration“, krächzt José Boadas. Er sitzt im Sand und zieht seine Schuhe an. „Früher waren wir mehr. Jetzt werden wir immer weniger.“ José ist fast neunzig. Sein Gesicht erinnert an eine Echse, seine Haut gleicht einer Landkarte. Mit Humor betrachtet er seinen alt gewordenen Körper. In gebückter Haltung joggt er den Strand entlang.

Die 76-jährige Paulina Ubiedo Pardo steckt ihren Stock in den Sand und schleppt ihren schweren, aufgeschwemmten Körper in die unruhige winterliche See. Mit tiefer Stimme singt sie kubanische Boleros, beispielsweise „Esperanza, du kannst nur Cha-Cha-Cha“.

Im Wasser ist ihr massiger Körper leicht und wendig. Sie wiegt sich in den Wellen, dreht sich und taucht runter. Die Kamera schwimmt auf Augenhöhe mit. Am Horizont stehen die Häuser Barcelonas.

Die Regisseurin Ines Thomsen lebte ein Jahr in Barcelona, sie wohnte in der Nähe des Hafens. Damals begegnete sie Paulina und anderen Senioren am Stadtstrand der katalanischen Metropole; Resultat war der Kurzfilm „Cantando la Vida“ (2002). Für ihren neuen Dokumentarfilm, „Mañana al mar“, hat Thomsen auf einem Kilometer des Strandes gedreht, von Mole zu Mole. Sie zeigt, wie die liebenswerte, greise Strandgemeinschaft überwintert. Denn im Winter gehört der Strand nicht den Touristen, sondern den Alten: Sie sitzen auf ihren Klappstühlen und spielen leidenschaftlich Domino, sie ziehen ihre welken Körper wacker an Reckstangen hoch, sie singen vertraute Lieder, füttern die Tauben, flirten lustig abgeklärt miteinander, wetten nicht um Geld, sondern um Bonbons, reden über den Wellengang, die Tiefenströmung und den baldigen Tod. José malt sich sein Begräbnis aus: Keine Blumen sollen gekauft werden, sondern Brot und Tomaten.

Wenn das Wetter es zulässt, sitzt Antonio auf seinem selbst gebauten Steinthron und beobachtet den Meeresspiegel und das Strandgeschehen. Auf der Mole hat sich der 83-Jährige aus Felsbrocken eine eigene kleine Burg gemauert. Antonio ist als Masseur strandbekannt. Als es dunkel wird, sagt er: „Heute kommen meine Freundinnen nicht mehr, so spät, wie es ist.“ Er kraxelt über Klippen. Krebse krabbeln über Kieselsteine.

Die Kamera bleibt immer am Strand, der als natürlicher Lebensraum seiner Bewohner erscheint. Irgendwann später fällt Schnee. Die Alten und die Krebse verziehen sich.

Ines Thomsen ist ein ruhiger, schöner Dokumentarfilm gelungen. Zuweilen verlangt er etwas Geduld – die Tage am Strand scheinen endlos, sie erinnern daran, wie man als Kind stundenlang Sandburgen baute. In ihrem Gestus gleichen die Senioren manchmal Kindern: Unbeschwert und versunken gehen sie auf wackeligen Beinen ihren Beschäftigungen nach, nur eben reicher an Geschichte und weiser.

Thomsens unaufgeregter, humorvoller Blick schafft die feine Balance zwischen Lustigkeit und Traurigkeit, zwischen Lebenslust und Vergänglichkeit. Wenn Paulina sich schwerfällig und lachend aus den Wellen hebt, hinkend an den Strand zurückkehrt, um sich hinterher am Strand stolz den Lidstrich zu ziehen, wird eine Venus geboren.

ARIANE VON GRAFFENRIED

„Mañana al mar“. Regie: Ines Thomsen. Dokumentarfilm, Deutschland/Spanien 2006, 83 Min., läuft ab 12. 10. im fsk und im Central