In den Ruinen einer großen Vergangenheit

Orhan Pamuk widmet sich in seinem Werk dem widersprüchlichen Erbe des Kemalismus – und dem Leben in seiner Heimatstadt Istanbul, wo Orient und Okzident aufeinanderprallen. Auch „für seine faszinierenden Stadtschilderungen“ erhält der streitbare Intellektuelle den Nobelpreis

Berlin taz ■ Er habe „auf der Suche nach der melancholischen Seele seiner Heimatstadt neue Sinnbilder für Streit und Verflechtung der Kulturen gefunden“, heißt es in der Begründung des Stockholmer Komitees, warum Orhan Pamuk den Literaturnobelpreis bekommt. Und so sehr sich darin schon andeutet, dass auch der streitbare Intellektuelle Pamuk ausgezeichnet wird – es ist vor allem der Schriftsteller Pamuk, der den Preis bekommt. Er könne laut Horace Engdahl, dem Sekretär der Akademie, „faszinierende Stadtschilderungen schreiben“ wie „kaum ein Autor der Weltliteratur“.

Denn darum geht es in Pamuks Werk: seine Heimatstadt Istanbul, und die Melancholie, die es bedeuten kann, in den Ruinen einer großen Vergangenheit zu leben, die sich ohne weiteres eben nicht mehr deuten lassen, weil sich seit der Modernisierung der Türkei so viele Bedeutungsschichten über sie gelegt haben. Wie kann man sich in ein Verhältnis zu einer Stadt setzen, fragt Pamuk, deren geschichtliches Selbstbild heute vor allem durch britische und französische Autoren geprägt wird, die auf der Suche nach einem orientalistischen Klischeebild durch das Istanbul des 19. Jahrhunderts streiften?

Diese endlosen Spiegelungen von Orient und Okzident und was mit ihnen einhergeht, die Sehnsucht nach Europa wie die Angst davor, das trotzige Bestehen auf einem eigenen Weg wie das Gefühl, vor dem europäischen Ideal nicht bestehen zu können – kurz: das widersprüchliche Erbe des Kemalismus – zieht sich durch Pamuks Werk.

Er sei in einer großbürgerlichen Familie der Fünfziger aufgewachsen, schreibt Pamuk in einer autobiografischen Erzählung über die Wohnung seiner Eltern. Und wie in jedem Istanbuler Haushalt jener Tage hätte auch bei ihnen ein Wohnzimmer das Zentrum gebildet. Eingerichtet nach europäischem Vorbild, mit Glasvitrinen voller Kristallgläser und teurem Porzellan und Klavier. Ein Wohnzimmer aber, das immer leer stand, richtete es sich doch an einen hypothetischen Besuch als Beweis der eigenen Westorientierung. Dieses Wohnzimmer kann man sich als das heimliche Zentrum von Pamuks Werk vorstellen – wenn man sich noch eine Bücherwand hinzudenkt, in der von Dostojweski bis zu Kafka die Werke der Weltliteratur stehen.

Pamuks frühe Romane widmen sich der Spannung zwischen Islam und Moderne, der Verbindung orientalischer Erzähltraditionen mit Stilelementen der westlichen Literatur und dem Abarbeiten an der vielgestaltigen Tradition des Osmanischen Reichs aus der sicheren Entfernung vergangener Epochen. „Rot ist mein Name“ spielt im 16. Jahrhundert und dreht sich um die Kunst der Buchmalerei, „Die Weiße Festung“ (inspiriert von Ecos „Der Name der Rose“) im Mittelalter.

„Schnee“ war es, mit dem Pamuk sich der Gegenwart zuwandte. Ein Roman, der davon handelt, wie der Dichter Ka in einem kalten Winter Mitte der Neunzigerjahre von einer liberalen Zeitungsredaktion nach Ostanatolien geschickt wird, um eine rätselhafte Selbstmordwelle unter Mädchen zu recherchieren, die offenbar mit einem Konflikt um das Kopftuch zusammenhängt.

Natürlich ist alles viel komplizierter, und während kemalistische Paramilitärs in dem eingeschneiten Städtchen putschen, geraten die Selbstmorde auch rasch in den Hintergrund. Doch das Interessante an „Schnee“ ist, wie Pamuk das Bild einer Türkei konstruiert, in der sich selbst die Gegnerschaft zum Westen nur auf einer verwestlichten Basis artikulieren lässt. Da wimmelt es von jungen Islamisten, die Science-Fiction-Romane schreiben wollen, Mädchen, die ihr Bekenntnis zum Kopftuch als Ausdruck der Selbstbestimmung begreifen, aber auch Autoritäten, für die der Bezug auf den Westen nur ein Vorwand ist, um ungestört morden zu können.

Es dürfte die traurige wie treffende Pointe sein, dass er mit diesem Buch nicht nur im Westen berühmt wurde, sondern dass genau dieser Ruhm ihm in der Türkei all den Ärger eintrug, der ihn dann im Westen noch bekannter machte. Tatsächlich hätte es der Interviews im Schweizer Tagesanzeiger und Pamuks Äußerungen über das ungeklärte Verhältnis der Türkei zum Völkermord an den Armeniern gar nicht bedurft, um Pamuk des Vaterlandsverrats zu bezichtigen - Ka, der Held von „Schnee“ kommt alle paar Meter an Häusern vorbei, über die lakonisch bemerkt wird, früher hätten sie einmal Armeniern gehört.

TOBIAS RAPP