„Endloser Datenozean“

Die Wissensgesellschaft fördert selten kluges Denken: Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann über Reformgeist, verfehlte Bildungspolitik, den Evaluierungswahn und anderes unnützes Wissen

INTERVIEW ROBERT MISIK

taz: Herr Liessmann, hätte ein Philosoph wie Immanuel Kant heute noch eine Chance im Universitätsbetrieb?

Konrad Paul Liessmann: Wahrscheinlich nicht. Und dies aus mehreren Gründen. Kant hat Königsberg bekanntlich nie verlassen – er ist das Paradebeispiel des Wissenschaftlers, der die Mobilität verweigert. Was übrigens nicht heißt, dass er nicht „vernetzt“ war – er hatte rege Briefkontakte. Er wollte aber unbedingt in Königsberg eine Professur und hat lange auf diese gewartet. Kaum hatte er sie, hat er zehn Jahre lang keine Zeile publiziert. In diesen zehn Jahren hat er allerdings nachgedacht. In seinem Kopf wuchs die „Kritik der reinen Vernunft“. Welchem Wissenschaftler würde man heute eine solche Zeitspanne gönnen, sein Hauptwerk vorzubereiten?

Auf heutige Verhältnisse umgelegt: Er hätte vielleicht eine Assistentenstelle oder Juniorprofessur bekommen und wäre dann wegen chronischer Inaktivität rausgeworfen worden?

Zumindest hätte er Auflagen bekommen. Er hätte mehr publizieren, vielleicht ein Forschungsprojekt einreichen müssen, wahrscheinlich wäre er einem „innovativen“, sprich: zeitgeistigen Forschungsschwerpunkt zugeordnet worden. Er wäre gezwungen worden, den Druck auf sich selbst zu erhöhen. Außerdem hätte er natürlich einen Teil seiner Zeit der Aufgabe widmen müssen, Drittmittel einzuwerben. Denn ein guter Wissenschaftler ist heute derjenige, der imstande ist, Geld aufzutreiben.

Was ist denn so schlimm daran, wenn man Wissenschaftler ein bisschen unter Druck setzt?

Ich habe gar nichts gegen Leistungsanreize und einen damit verbundenen sinnvollen Druck. Nur haben wir heute eine immer absurder werdende Konkurrenzspirale: Wer wirbt mehr Drittmittel ein? Wer publiziert mehr? Wer hat mehr Forschungsprojekte laufen? Wer ist öfter im Ausland? Ein solcher Wettbewerb verkennt das Geschäft, um das es hier geht: Wissenschaft braucht Zeit. Und zweitens, gerade wenn man für Leistungsanreize ist, müsste das doch ein Anreiz zu wissenschaftlichen Leistungen sein – die Reform- und Evaluierungskultur erhöht den Druck aber gerade nicht in diese Richtung. So bekommt man keine Wissenschaftler, eher Finanzgenies und Mobilitätsweltmeister.

Es sind also Kategorien der Ökonomie und der Jargon der Managementdiskurse, die gegenwärtig in die Wissenschaft einfallen?

Natürlich sind Forschungs- und Bildungseinrichtungen auch Institutionen, die gut und effizient verwaltet werden müssen. Aber wenn Wissenschaftler primär mit Management beschäftigt sind, läuft etwas schief. Das Wichtigste geht verloren: Wissenschaft ist ein offener Prozess, der davon lebt, dass man Thesen durchdenkt und der Kritik aussetzt. Heute gehen wir immer mehr von diesem inhaltlichen Diskurs weg, hin zu formalisierten Bewertungskriterien.

Werden die Universitäten dadurch kaputtgemacht?

Universitäten wird es noch geben, da wird der Evaluierungswahn schon Geschichte sein. Aber sie werden gelähmt.

Der Reformdiskurs verengt sie aber doch sehr auf das, was bewertbar und verwertbar ist?

Es gibt ja mittlerweile nicht nur Evaluierung, sondern zudem schon eine Evaluationsforschung. Die zeigt: Evaluierung beobachtet nicht nur, sondern gibt selbst Normen vor. Sie produziert gewissermaßen das, was sie später bewerten soll. Evaluationsverfahren haben immer steuernden Charakter. Wenn noch ökonomische Interessen dazukommen, dann bleibt von der Autonomie der Universität nicht viel übrig.

Nun war gerade Rationalisierung ein Projekt der Moderne. Ist das Ranking die Rache der Geschichte an der aufgeklärten Vernunft?

In der Wissenschaft selbst gibt es eine starke Tendenz zur Quantifizierung, das stimmt: „Messen, was messbar ist, und was nicht messbar ist, messbar machen“, dieser berühmte Satz von Galilei markiert auch die Geburtsstunde der modernen Wissenschaft. Das wirkt jetzt zurück. Aber es haben sich seither unterschiedliche Wissenschaftskulturen herausgebildet. Heute ist das Problem, dass Standards, die sich in den Naturwissenschaften entwickelt haben, auf alle Wissenschaften übertragen werden.

All das geschieht vor der Folie der Rede von der Wissensgesellschaft, in der, wie Sie schreiben „alles gleich gültig“ ist. Was ist die Wissensgesellschaft?

Ja, das wollte ich auch wissen. Ich habe ja schon in vielen Gesellschaften gelebt – im Spätkapitalismus, im Atomzeitalter, in der postindustriellen Gesellschaft, dann in der Informationsgesellschaft, jetzt lebe ich in der Wissensgesellschaft. Aber sind die Tätigkeiten, die die Arbeit in der Fabrik ablösen, tatsächlich wissensbasierte Tätigkeiten? Wenn man meint, dass man ein bestimmtes Wissen braucht, um diese Technologien zu beherrschen, dann war jede bisherige Gesellschaft eine Wissensgesellschaft. Und das Fräulein vom Amt in der Zeit der frühen Fernmeldetechnik war ganz zweifelsfrei eine Wissensarbeiterin. Vor allem aber: die Wissensgesellschaft von heute hat offensichtlich nicht mehr mit Erkenntnis und Weisheit zu tun als andere Gesellschaften vor ihr. Ich zweifle daran, dass die Wissensgesellschaft die Industriegesellschaft ablöst, eher scheint mir das Wissen industrialisiert zu werden.

Ein beispielhaftes Phänomen sind für Sie Wissensshows. Das Credo dieser Shows ist doch immerhin: „Du sollst viel wissen!“ Daran ist doch nichts schlecht, oder?

Nein, überhaupt nicht! Ich sage in meiner „Theorie der Unbildung“ ja nicht, dass wir dümmer werden. Im Gegenteil: Das Wissen, über das wir verfügen können, das wir teilweise auch in uns haben, ist immens. Es ist nur zusammenhangslos, wir schwimmen gewissermaßen im endlosen Datenozean. Was uns abhanden kommt, ist das, was man etwas nostalgisch eine Idee von Bildung nennt, die eine normativ steuernde Funktion für die Organisation dieses Wissens haben könnte. Gleichzeitig haben wir das dumpfe Gefühl, dass das Verstehen eines physikalischen Gesetzes oder die Kenntnis der Weltliteratur doch einen anderen Status hat als das Wissen über die jüngste Liaison eines x-beliebigen Popstars – obwohl das in den Wissensshows und in vielen Medien gleichrangig behandelt wird.

Was ist die Folge?

In dem Moment, wo die synthetisierende und organisierende Kraft solch einer Bildungsidee abnimmt, werden wir unseren eigenen Wissensmöglichkeiten gegenüber ohnmächtig. Gerade angesichts der Unendlichkeit des Wissens, das im Prinzip zur Verfügung steht, fühlen wir uns ja auch extrem unwissend.

Sind Sie ein Nostalgiker, der der guten alten Zeit nachtrauert, in der alles besser war?

Bin ich gar nicht! Ich beobachte eine Transformation, über die ich mir vor der Folie der Vergangenheit klarer werden will. Es schadet deshalb sicher nicht, die Idee der humanistischen Bildung, wie wir sie seit Alexander von Humboldt kennen, dem gegenwärtigen Geist entgegenzuhalten. Wir haben jede Bildungsidee ersetzt durch Wettbewerb – gut ist das Wissen, das uns nützt, um in der Konkurrenz mit anderen zu bestehen. Das ist meines Erachtens doch etwas eng. Dabei schätze ich den Stimulus des Wettbewerbs sehr. Aber Entscheidendes geht dabei verloren: die ursprüngliche Neugier und die Lust an der Erkenntnis.