Appelle zur Assimilation

Die Integration der Türkei in Europa und die Integration der Türken in Deutschland gehören zusammengedacht. Konservativen gelingt das leider nur als Gegensatzpaar

Zwischen Religionen kann es keine Versöhnung geben, nur Wettbewerb. Der Staat muss neutral bleiben

Zwei Themen, die zusammengehören, aber selten zusammengedacht werden, sind die Integration der Türken in Deutschland und die Integration der Türkei in Europa. Konservative Kreise begreifen das als Gegensatz: Im „nationalen Interesse“ wollen sie die Bindungen der Deutschlandtürken an die Türkei reduzieren, zugleich betreiben sie die Ausgrenzung der Türkei vom europäischen Einigungsprojekt.

Aber wird nicht genau andersherum ein Schuh daraus? Ist nicht eine demokratisierte, in Europa gut integrierte Türkei die beste Voraussetzung für die Integration der Türken in Deutschland? Eine Eindeutschung im Sinne einer Assimilation wäre dann zwar nicht mehr möglich, wahrscheinlich auch überflüssig. Umgekehrt aber muss man fragen: Was passiert, wenn die Türkei außen vor bleibt, nationalistische Tendenzen und die Hinwendung zu einem orthodoxen Islam dort stärker werden?

Die Fragen um die Integration von Fremden lösen bei den meisten Aufnahmegesellschaften nach wie vor eher irrationale Reaktionen aus. In Deutschland wird – nach einer langen Leugnung der Einwanderung – nun einer Assimilationspolitik das Wort geredet, die ihre Vorbilder in Integrationsleistungen vergangener Jahrhunderte sucht und das katastrophale Scheitern des deutschen Nationalstaates im vergangenen Jahrhundert geflissentlich übergeht.

Oder sollten wir Anlass zum Optimismus haben, dass aus der Vergangenheit nun genügend Lehren gezogen worden sind? Deutschland 2006 ist ein liebenswertes Land. Eine stabile Demokratie, Friedensbotschafter in der Welt. Beinahe-Fußballweltmeister. Ein erfolgreicher Motor der Globalisierung und der Völkerverständigung …

Spätestens an diesem letzten Punkt gerät der Schwärmer ins Stocken. Stehen wir mit unserem Bildungssystem, unserer Wirtschaft, unserem Sozialstaat und unserem Selbstverständnis wirklich auf der Höhe unserer Zeit? Oder befindet sich ein wesentlicher Teil unserer Gesellschaft nicht nur materiell, sondern auch geistig-mental auf Hartz-IV-Niveau?

Die Integrationsdebatten der letzten Jahre stimmen da eher skeptisch: Sie folgen nach wie vor den althergebrachten Linien, die von Ängsten und Phobien gezogen werden. Deutsche mit bestenfalls türkischem Migrationshintergrund wünscht man sich, keine „Türken mit deutschem Pass“ – das ist schön formuliert, aber man wird beides haben und in Zukunft von beidem noch mehr. Ein nüchterner Patriot dagegen wünscht sich vor allem Bürger mit guter Qualifikation und Aufstiegschancen. Er würde darauf vertrauen, dass der soziale Aufstieg der beste Weg zur Assimilation in die deutsche Gesellschaft ist. In einer solchen Gesellschaft würden unbescholtene, gesetzestreue Steuerzahler mit türkischem Pass auch niemanden stören. Wer mag, kann sie dann sogar als „Deutsche mit türkischem Pass“ bezeichnen.

Ein Land, in dem man gut verdienen und in Sicherheit leben kann, wird man lieben. Ein Land, in dem die eigene Volksgruppe oder auch das Land, aus dem man ursprünglich stammt, ständig als Problemfall angesehen wird, kann dagegen auf Dauer keine Heimat bieten. Es nährt den Boden für ethnische Konflikte, die durch das unermüdliche Palavern über Identitäten und Zugehörigkeiten eher verstärkt als abgeschwächt werden. Vor allem aber verhindert die Ethnisierung sozialer und kultureller Differenzen die Individualisierung. Gruppen werden homogenisiert, sie kapseln sich ein, konstruieren sich als Gegenüber, das von den Unterschieden lebt. So gedeiht türkischer Nationalismus auf deutschem Boden.

Eine erfolgreiche Assimilation setzt einen starken Aufnahmewillen der Mehrheitsgesellschaft voraus sowie die Bereitschaft, zu teilen. In Deutschland aber gibt es vor allem ein starkes Mitteilungsbedürfnis. Die Integrationspolitik hat appellierenden Charakter. Die Anrede aber kann das Gespräch auf Augenhöhe nicht ersetzen. Ebenso wenig entfaltet sie eine erotische Kraft, die zur Verschmelzung führt.

Im Zeitalter globaler Kommunikation und der kurzen Wege sind die Menschen immer mehr in der Luft zu Hause, nicht auf irgendeinem nationalen Boden. Dass mögen bodenständige Menschen beklagen, ändern werden sie es nicht. Verwurzelung ist ein relativer Begriff geworden, denn die Wurzeln lassen sich hin und her tragen. Mag sein, dass damit eine soziale Klimakatastrophe einhergeht. Die Massenmigration hat zu erheblichen sozialen und seelischen Deformierungen geführt, aber auch zur kulturellen und wirtschaftlichen Belebung von Gesellschaften.

Da es aber zur Globalisierung keine Alternative gibt, führt die Klage nicht weiter. Eine solche Klage ist und bleibt ein melancholischer Akt und bietet bestenfalls Stoff für Kunstwerke. Eher aber wird sie bemüht und missbraucht von reaktionären Demagogen, um die Unvereinbarkeit kultureller Differenzen zu behaupten.

Wie aber können dieselben Politiker, die eine Integration der Türkei in Europa für ausgeschlossen halten, so davon überzeugt sein, die Türken in Deutschland erfolgreich integrieren zu können? Ach ja, richtig, wir sprechen ja gar nicht mehr von den Türken in Deutschland, sondern von Muslimen, vorzugsweise von deutschen Muslimen. Dadurch wird die ganze Angelegenheit aber nur noch diffuser. Gehört die Türkei vielleicht deshalb nicht zu Europa, weil das laizistische Land seine Bürger nicht als Angehörige einer Religion, sondern als Angehörige einer Nation begreift? Sind Aufklärung und Säkularisierung in der deutschen Gesellschaft wirklich so schwach ausgeprägt, dass die Religionszugehörigkeit inzwischen zu einem Schlüsselbegriff der Integration geworden ist?

Die Reform der muslimischen Religion mit dem Ziel, sie mit demokratischen Gesellschaftsformen zu versöhnen, ist ein ernsthaftes Thema. Doch diese Reform kann nicht gelingen, indem aufgeklärte, demokratische Gesellschaften sich von Hysterie anstecken lassen. Auf dem Markt der Meinungen ist der Islam inzwischen zu einem lukrativen Geschäftsgegenstand geworden: Wir haben Islam bis zum Überdruss. Dabei ist es inzwischen völlig unerheblich, ob die Marktteilnehmer die Materie, von der sie sprechen, überhaupt kennen. Im Vordergrund stehen ihre Botschaften; möglichst polarisierend sollen diese sein. Das Entweder-oder steht hoch im Kurs: Für Zwischentöne gibt es kein Gehör mehr.

Die Religion ist heute zum Schlüsselbegriff für die Integration geworden. Das ist fatal für den Säkularismus

Nein, solche Diskussionen versprechen weder Versöhnung zwischen den Kulturen noch zwischen den Religionen. Vielmehr wird dabei lediglich die Kultur durch die Religion ersetzt. Plötzlich mutiert man zum muslimischen Schriftsteller, nur weil der deutsche Ausweis einen türkischen Geburtsort aufweist. Eigentlich wollte man doch nur Schriftsteller sein und empfand schon die Attribute „deutsch“, „türkisch“ oder „deutsch-türkisch“ als überflüssig. Die qua Geburtsort „deutschen“ Kollegen firmieren ja auch nicht als christliche Schriftsteller. Noch nicht jedenfalls. Dies ist eine gefährliche, für die säkulare Gesellschaftsordnung geradezu bedrohliche Entwicklung. Denn in aufgeklärten, offenen Gesellschaften sollte die Religion eigentlich Teil der Kultur sein, nicht umgekehrt.

Warum sollte ein Muslim von seiner Überzeugung abrücken, die Christen hätten Gottes Botschaft gefälscht? Warum sollte ein Christ nicht mehr daran glauben dürfen, dass Mohammed ein verirrter Sektierer war, der seine Lehren von Juden und Christen abgelauscht hat? Warum darf ein Agnostiker sich über den Streit der Frommen nicht amüsieren dürfen?

Zwischen Religionen kann und wird es keine Versöhnung geben, sondern nur Wettbewerb. Das ist auch der Grund dafür, warum die zahllosen Treffen der Glaubensvertreter, die so genannten interreligiösen Dialoge, in nichtssagenden, allgemeinen Verlautbarungen und Friedensbotschaften enden. Gerade wenn man die Religionen und ihre Botschaften ernst nimmt, ist die Säkularisierung, die Trennung zwischen Staat und Glaubensorientierung, lebenswichtig. Sie ist die einzige Grundlage für ein friedliches Miteinander.

ZAFER ȘENOCAK