Das neue Dublin ist bunt

Stadt & Migration: beispielsweise Dublin. Der Wirtschaftsboom hat auch nach Irland Einwanderer gebracht. Im Jahr 1996 überstieg die Zahl der Einwanderer erstmals die der Auswanderer

von RALF SOTSCHECK

Auf dem modernen Flachbildschirm laufen russische Videos mit basslastiger Musik. An den fünf runden Tischen sitzen ein Dutzend Männer und zwei Frauen, Immigranten aus den baltischen Ländern, und trinken litauisches Bier. Die Bar Baltica in Dublins Cahal Brugha Street ist ihr Treffpunkt, ein Litauer hat den Laden vor ein paar Monaten übernommen.

Früher war die Bar ein großer irischer Pub. Der neue litauische Besitzer hat die Kneipe geteilt und die Hälfte in einen Supermarkt umgewandelt. Eine Angestellte schenkt am Tresen Bier aus, an der Rückseite der Bar kassiert sie für die Lebensmittel und die baltischen Zeitungen. Selbst die russische Ausgabe des Playboy ist hier erhältlich. Wladimir aus Vilnius kommt jeden Samstag hierher, trinkt ein, zwei Bier und erledigt dann seine Einkäufe im Slavyanskiy Bazar, wie der Supermarkt heißt. Wladimir ist seit zwei Jahren in der irischen Hauptstadt, sein Englisch ist noch etwas holprig, aber für seinen Job als Stuckateur auf dem Bau reicht es. „Die Dubliner“, sagt er, „haben uns Immigranten freundlich aufgenommen.“

Das war nicht immer so. Die Iren waren anfangs den Einwanderern gegenüber misstrauisch, und manche sind es immer noch, obwohl Generationen ihrer Vorfahren selbst ausgewandert waren. 70 Millionen Menschen auf der Welt berufen sich auf irische Wurzeln. In den Achtzigerjahren verließ ein Sechstel der Bevölkerung die Insel, bis der Tiefpunkt von 3,5 Millionen erreicht war. Als Irland während des Jugoslawienkrieges sich bereit erklärte, 200 Flüchtlinge aufzunehmen, wollten nur 160 kommen. Dublin war heruntergekommen, in der Innenstadt gab es viele Brachflächen, auf denen Ziegen grasten, Grundstücksspekulanten ließen die Häuser am Ufer der Liffey verfallen. Dann lockte die Regierung ausländische Unternehmen mit niedriger Körperschaftsteuer und einer ausgebildeten, englisch sprechenden Arbeiterschaft an. Der Wirtschaftsboom ist über Irland rasant hereingebrochen.

1996 überstieg die Zahl der Einwanderer zum ersten Mal die der Auswanderer, seit der Jahrtausendwende kommen mehr als 50.000 Immigranten jedes Jahr – das sind viermal so viele, wie in die USA einwandern, wenn man es auf die Bevölkerungszahl umrechnet. Seit der Osterweiterung der EU sind es noch mehr. Die Bevölkerungszahl der Republik Irland ist auf über 4 Millionen angestiegen, fast zehn Prozent sind Immigranten, die größte Gruppe stellen die Polen. 300.000 leben in Irland. In den Supermärkten gibt es Sondertische mit polnischer Ware, und Dublins Abendzeitung, der Evening Herald, legt dem Blatt jeden Freitag eine achtseitige Beilage auf Polnisch mit Tipps für die Einwanderer bei. So verriet die Zeitung den Einwanderern, dass ihnen 150 Euro Kindergeld im Monat zustehen, selbst wenn die Kinder in Polen leben. Nach Veröffentlichung des Artikels stieg die Zahl der Kindergeldanträge von Polen um 400 Prozent.

Dass die Immigranten mit mehr oder weniger offenen Armen empfangen werden, hat wirtschaftliche Gründe. Zwischen 1988 und 2000 ist die Zahl der Arbeitsplätze um 50 Prozent gestiegen, es herrscht nahezu Vollbeschäftigung, und wenn die Wirtschaft weiter wachsen soll, ist man auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen. Dublin ist bunt geworden. Es sind nicht mehr die einheitlichen grauen Ladenzeilen und die blassen Iren, die das Stadtbild prägen, sondern – vor allem im nördlichen Zentrum – die Einwanderer und ihre exotischen Läden. Neben den Polen leben 20.000 Nigerianer, 50.000 Balten und 100.000 Chinesen in Dublin.

Von der Bar Baltica sind es nur wenige Schritte zur Parnell Street. Auf hundert Metern liegen hier ein halbes Dutzend chinesische Restaurants, die in Anbetracht der exorbitanten Dubliner Preise recht billig sind. Neben den Restaurants gibt es mehrere chinesische und afro-karibische Supermärkte, in denen auch die Einheimischen einkaufen. Dazwischen ist ein alteingesessener Laden übrig geblieben. Er verkauft Papageien.

Wenige hundert Meter in südlicher Richtung zweigt die Moore Street von der Parnell Street ab. Es gibt keine andere Straße, in der das alte und das neue Dublin so dicht beieinanderliegen. Auf der Straße, die für Autos gesperrt ist, verkaufen die Gemüsehändlerinnen mit dem schärfsten Mundwerk Irlands an hölzernen Ständen ihre Ware, wie sie es seit Jahrzehnten tun. Doch die Ladenzeilen sind fest in ausländischer Hand: nigerianische und chinesische Cafés, ein Friseurgeschäft mit Haarteilen für afrikanische Frauen, ein karibischer Supermarkt. Selbst der Fleischer FX Buckley’s, der hier sein Geschäft seit hundert Jahren betreibt, bietet Schweinsköpfe und Zungen an, die von den Iren verschmäht werden, bei den Chinesen aber beliebt sind.

„Selbst in der kurzen Zeit, in der ich hier bin, ist Dublin kosmopolitischer geworden“, sagt Ovidiu Matiut. Der 42-Jährige stammt aus Rumänien oder genauer: aus Transsilvanien. Er kam vor sechseinhalb Jahren als Asylbewerber nach Dublin, denn in Rumänien wurde er verfolgt, weil er sich für die transsilvanische Autonomie eingesetzt hatte. Inzwischen hat er die irische Staatsbürgerschaft angenommen. Man sieht ihm an, dass er Sport treibt. Es gibt drei rumänische Fußballmannschaften, die in den unteren irischen Ligen mitmischen. Er spielt für das „Team Dracula“, das sich natürlich aus Transsilvanern zusammensetzt. „Die Verbindung liegt auf der Hand“, sagt Matiut. „Bram Stoker, der den transsilvanischen Grafen Dracula erfunden hat, war Dubliner.“

Matiut ist Bergbauingenieur, arbeitet inzwischen aber als Integrationsbeauftragter für eine NGO, die vom irischen Justizministerium und der Europäischen Union finanziert wird. „Anfangs wollen alle nur eine Weile bleiben, Geld verdienen und dann wieder nach Hause“, sagt Matiut. „Aber du veränderst dich. Als ich vor kurzem zu Besuch in Rumänien war, fühlte ich mich dort nicht mehr zu Hause. So wird es auch den Polen gehen. Sie werden bleiben. Alle werden sie bleiben. Und das ist gut für Dublin und die Atmosphäre der Stadt.“