Die Hoffnungslosen

Jeder Sechste fühlt sich gesellschaftlich abgeschoben. SPD-Linker Schreiner: „Absolut depressive Stimmung“

BERLIN taz ■ Die bundesdeutsche Gesellschaft driftet auseinander: Ein Sechstel der Deutschen sieht sich in jeder Hinsicht als Verlierer der gesellschaftlichen Entwicklung und ins Abseits abgeschoben. Zu diesem Ergebnis kommt eine repräsentative Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Die Studie „Gesellschaft im Reformprozess“, die der taz vorliegt, löste in der SPD neue Diskussionen darüber aus, wie das „Unterschichtenproblem“ zu lösen sei. Der SPD-Linke Ottmar Schreiner forderte seine Partei zum Umdenken auf. Armut und soziale Ausgrenzung seien „das Ergebnis der Politik von Gerhard Schröder“, zitierte ihn gestern der Tagesspiegel.

Der taz sagte Schreiner, besonders Hartz IV provoziere Abstiegsängste innerhalb der Mittelschicht. „In der Gesellschaft herrscht ein absolut depressives Stimmungsbild“, meinte Schreiner unter Berufung auf die Studie. Die Autoren der von Infratest durchgeführten Befragung bilanzieren, das dominante gesellschaftliche Grundgefühl sei Verunsicherung. Fast die Hälfte der über 3.000 befragten Personen hat Angst, den gegenwärtigen Lebensstandard nicht halten zu können, 40 Prozent befürchten im Alter auf Sozialhilfe angewiesen zu sein. Von der Politik erwartet über die Hälfte keine Hilfe, es sei egal, welche Partei man wählt. 44 Prozent fühlen sich vom Staat allein gelassen.

4 Prozent der Westdeutschen und 25 Prozent der Ostdeutschen ordnen die Wissenschaftler der Unterschicht ohne Aufstiegschance zu, dem „abgehängten Prekariat“. Äußere Anzeichen dieses Typs: männlich und im Osten generell am häufigsten anzutreffen, viele von ihnen Arbeiter oder Facharbeiter. Zwei Drittel waren schon einmal arbeitslos. Die Mitglieder dieser Gruppe – hochgerechnet 6,5 Millionen Menschen – empfinden ihre gesamte Lebenssituation als ausgesprochen prekär und befürchten, selbst diesen niedrigen Lebensstandard nicht zu halten.

Schreiner forderte die SPD auf, neue Konzepte gegen gesellschaftlichen Abstieg zu entwickeln. „Ein gesetzlicher Mindestlohn ist ein sinnvoller Ansatz.“ Des Weiteren forderte er einen staatlich geförderten Arbeitsmarkt. „Auf diese Weise müssten mindestens eine halbe Million sozialversicherungspflichtiger Jobs entstehen.“ Auch Qualifizierungsmaßnahmen sollten wieder ein zentrales Element der Arbeitsmarkpolitik werden, sagte Schreiner. ANNA LEHMANN