Peter Unfried über CHARTS
: Eine emotionale Wahrheit

Warum erzählt Al Gore vom Lungenkrebs? Antworten zum Klima-Film „Eine unbequeme Wahrheit“

In meinem All-Time-Nummer1-Film „Eine Unbequeme Wahrheit“ („An Inconvenient Truth“) spricht Al Gore auch über den Tod seiner Schwester. Und über die Nacht, als sein Sohn im Koma lag. Mancher deutsche Kinogänger akzeptiert zwar die These des früheren US-Vizepräsidenten, dass die Verhinderung der Klimakatastrophe eine moralische Verpflichtung sei. Aber wenn dann die Trauermusik leise über Tabakfelder weht, ist ihm das doch ein bisschen zu dick.

Er fragt sich erstens: Was soll das, und was hat das mit dem Thema dieses Dokumentarfilmes zu tun, der in den USA das dritthöchste Einspielergebnis aller Zeiten erzielt hat?

Regisseur Davis Guggenheim („24“) sagt, er musste Gore dazu überreden. Guggenheim kennt seine Amerikaner und wusste, dass man die langjährige und, ehrlich gesagt, nicht sehr erfolgreiche Arbeit Gores als Klimapolitiker humanisieren und emotionalisieren musste, um das Massenpublikum zu erreichen.

Bisweilen fürchtet man tatsächlich, dass die „emotionale Wahrheit“, die der Regisseur sucht, die unbequeme Wahrheit des Films übertüncht. Aber am Ende ergeben die biografischen Erfahrungen ihren Sinn. Gores Schwester war starke Raucherin. Ihr Lungenkrebstod wird auch als Ergebnis jahrzehntelanger Verschleppung und Verschleierung der Wahrheit (Rauchen tötet Menschen) durch die Tabakindustrie-Lobby und die ihr angeschlossenen Politiker interpretiert.

Die Analogie besteht darin, dass die verheerenden Auswirkungen des ständig steigenden CO2-Ausstoßes auch viel zu lange geleugnet wurden. Der Grünen-Politiker Jürgen Trittin erzählte unlängst, wie er sich als Umweltminister mit der ein Problem leugnenden Bush-Administration darüber streiten musste.

Zweite Frage: Warum erzählt Gore von einem Autounfall, der seinen Sohn fast getötet hätte?

Vermutlich um seine Landsleute daran zu erinnern, wie wichtig gerade ihnen das Leben ihrer Kinder und Nachfahren ist. Ich meine: Man kann in den USA Kinder keine fünf Meter vor sich auf dem Gehsteig gehen lassen, ohne dass einen drei Moralisten höflich, aber spitz darüber belehren, dass man mit dieser Verantwortungslosigkeit das Leben der kleinen Racker gefährdet! Diese Verve, so interpretiere ich Gore, muss man auch angesichts einer ungleich größeren Bedrohung einbringen.

Für US-Amerikaner sind Gores Emo-Szenen eine Selbstverständlichkeit. „Nicht alle Menschen sind Wissenschaftler“, sagte mir Jerome Ringo, der Präsident der National Wildlife Federation, der größten Umweltorganisation in den USA. „Man kann ihnen nicht nur mit Zahlen und Technik kommen. Die Sache muss ein Gesicht haben, sonst sind sie nicht interessiert.“ Der Film sollte immerhin den texanischen Hillbilly erreichen. Zwar nicht den im Weißen Haus, aber den, der ins Grübeln gekommen ist, seit „Katrina“ New Orleans vernichtet hat, sein Nachbar im Sarg aus dem Irak zurückkam und er selbst sich den Sprit für sein Riesenauto kaum noch leisten kann.

Dritte Frage: Warum tut Gore so, als könnten wir klitzekleinen Menschen etwas in den Griff bekommen, was die Politik ignoriert, wie auch der jüngste Klimagipfel bei der Kanzlerin wieder bewies?

Es handelt sich offenbar um einen Strategiewechsel, der in diesen Tagen auch bei den deutschen Umweltverbänden zu beobachten ist. Weg vom Politik-Lobbying, hin zur Zivilgesellschaft und zum Verbraucher.

Klar rettet es nicht die Welt, wenn sich Teile der kalifornischen Mittelschicht statt eines Fords einen Toyota oder Honda Hybrid kaufen, also ein Auto mit Benzin- und Elektromotor. Der Hybrid verbraucht zwar weniger, aber immer noch zu viel Benzin. Aber der Kauf ist eine klare Botschaft an die US-Autoindustrie: Ich will das haben! Baut bessere, also energieeffizientere Autos, oder ihr kriegt noch größere Probleme, als ihr sie jetzt schon habt.

Analog funktioniert in Deutschland die Aktion „atomausstieg-selber-machen.de“. Dass die vier großen Energiekonzerne in diesen Tagen den gesellschaftlichen Konsens (raus aus der Atomwirtschaft, rein in Erneuerbare Energien) in aller Offenheit kündigen, kann man hinnehmen. Oder nicht. Im zweiten Fall kündigt der Verbraucher ihnen. Dann ist ihr Profit weg.

Man kann sicher sein: Das ist eine Moral, die auch sie verstehen.

Fragen zur Emotion? kolumne@taz.de Morgen: Arno Frank über GESCHÖPFE