„Millionen, die in Armut wie gefangen sind“

Der Begriff „Unterschicht“ beschreibt die ausweglose Situation von Armen zutreffend, sagt die Soziologin Jutta Allmendinger

taz: Frau Allmendinger, sind Sie eine der lebensfremden Soziologinnen, die eine reine Begriffsdebatte um die Unterschicht führen?

Jutta Allmendinger: Es wäre schlimm, wenn es da nur um Begriffe ginge. Denn das würde von dem realen sozialen Phänomen ablenken, das wir seit geraumer Zeit beobachten. Es stört mich, dass eher in der öffentlichen Diskussion die Tendenz zur Begriffshuberei erkennbar ist.

Gibt es denn eine neue Unterschicht?

Wir haben schlichtweg das Problem, dass wir in der Gesellschaft eine erhebliche Zahl von Personen finden, die wie gefangen in ihren sozialen Lagen verharren. Sie haben kaum die Möglichkeiten, da wieder herauszufinden.

Was bedeutet das?

Wenn jemand in einem Zeitfenster von drei Jahren nicht aus dem Armutsbereich herausfindet, dann sprechen wir von verfestigter Armut. Da bietet sich der Begriff Unterschicht sehr wohl an. Nach dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung kommen 8 bis 10 Prozent der Bevölkerung überhaupt nicht mehr aus ihrer Lage heraus. Insgesamt würde ich den Anteil der Gefährdeten sogar höher einschätzen. Es gibt viele, die immer an der Schwelle des in and out of poverty stehen …

die reinrutschen in die Armut, wieder herausklettern und wieder zurückfallen.

Ja. Wenn Sie Einkünfte von weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens nehmen – die übliche Armutsdefinition –, dann haben Sie 13,5 Prozent in Armut.

Um wie viele Menschen geht es dabei in Zahlen?

Es handelt sich um rund elf Millionen Menschen.

Was ist neu an dieser neuen Unterschicht?

Zum einen – das ist meine Kritik – tun viele so, als wäre das eine völlig neue Erkenntnis. Dabei ist die soziale Frage ein uraltes Phänomen. Die Gesellschaft vergisst die Armen nur immer wieder. Von daher ist es auch wichtig, immer wieder daran zu erinnern. Denn es ist in Wahrheit ja skandalös, dass die Gesellschaft in oben und unten geteilt ist.

Aber gibt es nicht tatsächlich neue Aspekte?

Das Neue ist, dass heute mit dem Umbau der Arbeitslosen- und Sozialhilfe durch Hartz IV ein größerer Anteil an Menschen arbeitslos gemeldet ist. Die Zahl der sozial Abgehängten war früher stärker vertuscht. Früher waren viele Sozialhilfebezieher nicht in der Arbeitslosenstatistik erfasst. Heute beziehen diese Menschen Arbeitslosengeld II – und entsprechende Berichtssysteme zeigen uns das immerfort an. Das heißt, Arbeitslosigkeit und Armut sind transparenter geworden.

Hat Hartz IV auch dafür gesorgt, dass mehr Menschen in die Armut getrieben werden?

Ich kann diesem Argument nicht folgen. Man sieht sie einfach besser, und das ist gut, denn man kann sich vor deren Wahrnehmung nicht mehr drücken.

Womit hat Armut zu tun? Mit dem Mangel an Geld, fehlender Beschäftigung oder der Abwesenheit von Bildung?

Wir definieren Armut durch Zahlen. Dahinter aber stehen massive Bildungsprobleme. Wenn wir uns die Ergebnisse der Schülerstudie Pisa der OECD ansehen, dann wundert es uns überhaupt nicht, dass die funktionalen Analphabeten und die Jugendlichen ohne Ausbildung auf Dauer keine Zugänge zum Arbeitsmarkt finden. Wenn man politisch etwas machen wollte, müsste man zuallererst die Ursachen dieser Bildungsungleichheit bekämpfen. Da passiert aber bislang nicht genug. Obendrein findet eine gesellschaftliche Entwicklung statt, welche die Situation noch verschärft.

Welche ist das?

Die einfachen, anspruchslosen Jobs werden ja immer weniger. Wir stehen mitten im Übergang zu einer Wissensgesellschaft, in der zunehmend höhere Qualifikationen verlangt werden – und das auf allen Gebieten. Bildungsarme und Arme haben da kaum noch Chancen. INTERVIEW: CHRISTIAN FÜLLER