„Es gibt eher zu wenig Selbstverwirklichung“

Über Geburtenrückgang und Familienzerfall zu klagen hat wenig Sinn, meint der Familientherapeut Friedebert Kröger. Frank Schirrmacher und Eva Herman haben keine Antworten auf heutige Fragen, sondern verklären die Vergangenheit

taz: Herr Kröger, wir bekommen zu wenig Kinder. Alle machen sich Sorgen um die Zukunft der Familie. Sie auch?

Friedebert Kröger: Nein. Familien können sehr gut auf neue Herausforderungen reagieren.

Aber Sie leugnen doch nicht, dass zu wenig Kinder geboren werden, oder?

Man kann nicht einfach auf die Geburtenrate gucken. Vor hundertfünfzig Jahren hat nur eines von drei Kindern das 21. Lebensjahr erreicht.

Aber 2050 muss ein Erwerbstätiger fast allein für einen Rentner aufkommen. Da ist doch Besorgnis angebracht.

Solche linearen Verlängerungen in die Zukunft sind wenig realistisch, dadurch sollte man sich nicht Bange machen lassen. 1950 konnte man zum Beispiel den heutigen Zustand der Republik überhaupt nicht vorhersagen. Und 1900 hätte ein Bauer auch nicht gedacht, dass er in hundert Jahren nicht mehr acht, sondern achtzig Menschen mit seiner Arbeit ernähren kann. Wird die Arbeit in der Zukunft überhaupt mehr oder nicht vielleicht weniger? Diese Unsicherheit hat mich dazu gebracht, eher auf die Potenziale des Einzelnen zu schauen. Also, man sollte nicht schlicht versuchen, Familien mit 1.000 Euro zu mehr Geburten zu bewegen. Sondern wir sollten sehen, dass diejenigen, die später für die Versorgung zuständig sind, die Fähigkeiten dazu haben.

Qualität statt Quantität?

Das Vorbild sind die Skandinavier, die schon seit geraumer Zeit sagen: Wir sind so wenige, dass wir es uns nicht leisten können, einen Einzigen im Bildungsprozess zu verlieren. Von dieser Philosophie sind wir noch ziemlich weit entfernt. Das aber ist realistischer, als das Gespenst der Demografielücke zu beschwören.

Der Bestsellerautor Frank Schirrmacher beschwört nicht nur dieses Gespenst, sondern auch die Familie als Hort der Stabilität in unsicheren Zeiten. Glücklich, wer noch eine Großfamilie hat, meint er. Richtig?

Naja. Blutsverwandtschaft war früher eine Art weicher Faktor für den Erfolg eines Teams. In der heutigen hochindividualisierten Gesellschaft kommt man mit Clandenken nicht weit. Was dagegen stimmt: Teams, die auch emotional gebunden sind, sind äußerst wirkungsvoll. Das bestätigt die Organisationspsychologie. In der Familie können sich diese weiche Faktoren wie etwa Kommunikationsfähigkeit entwickeln. Allerdings ist das historisch gesehen relativ neu. Dafür mussten die autoritären Strukturen erst abgebaut werden. Insofern ist es etwas irreführend, diese Fähigkeiten auf die frühere Großfamilie zu beziehen.

Den Zerfall der Familien muss man gar nicht beklagen?

Die Familien zerfallen nicht. Sie reorganisieren sich nur öfter. Patchworkfamilien gab es schon immer. Früher hat der Tod die Familien getrennt, heute der Wille der Beteiligten. Eine Reorganisation ist eine Herausforderung, mit der die Familien heute genauso fertig werden müssen wie früher. Früher sagte dann der Vater, wo es langgeht. Heute müssen Eltern es aushandeln, weil alle individuelle Bedürfnisse anmelden. Man kann aber nicht eine Konsumgesellschaft mit lauter individuellen Wünschen haben wollen und gleichzeitig autoritäre Familienstrukturen. Wer einfach wieder zurückwill, muss auch die Konsumgesellschaft und damit das Wirtschaftssystem begraben. Ich weiß nicht, ob Herr Schirrmacher das wirklich will.

Eva Herman meint nun, dass gerade eine Mutter daheim Kindern eine gute Basis für diese Gesellschaft bieten kann.

Ja, wenn sie damit glücklich ist, gerne. Aber einen solchen Appell an die ganze Gesellschaft zu richten, ist wenig sinnvoll. Jeder sollte heute selbst bestimmen können, was ihn glücklich macht. Die Zeiten, als die Gesellschaft bestimmte, wie man glücklich zu sein hat, sind einfach vorbei. Wir haben nun mal vom Baum der Erkenntnis gegessen.

Geht es in Ihren Familientherapien oft darum, dass Frauen sich angeblich zu sehr selbst verwirklichen, wie Frau Herman meint?

Nein, aber es geht oft darum, die Enttäuschung von gegenseitigen zu hohen Erwartungen zu verarbeiten. Es geht auch darum, den eigenen Standpunkt und die eigene Grenze zu definieren: Was kann und will ich den anderen geben und was nicht. Das heißt, in einer individualisierten Gesellschaft muss man die eigenen Bedürfnisse kennen. Gerade Frauen haben oft ein Problem, ihre Forderungen wirklich zu formulieren. Also, wir sehen hier eher zu wenig als zu viel Selbstverwirklichung.

Entlasten Eva Hermans Thesen Frauen, denen die Emanzipation zu mühsam wird?

Das sehe ich nicht. Heute sind Aushandlungsprozesse in den Familien nötig, dafür bietet Frau Herman aber gar keine Lösung an. Es gibt auch viele Frauen, die erwerbstätig sein müssen und nicht zu Hause bleiben können – für die ist das auch kein Konzept. Es ist ein einfaches psychologisches Muster: Was zurückliegt, wird verklärt, was vor uns liegt, ängstigt uns. Es kann so entlasten wie ein Roman, den man liest. Aber ein praktikables Modell ist es nicht. Die Handlungsformen, die wir heute haben, die sind schon ganz in Ordnung.

INTERVIEW: HEIDE OESTREICH