Bilder des Ostens

Prag ist von Dresden so weit entfernt wie Berlin. Trotzdem ist es nur touristisch, nicht kulturell schnell erreichbar. Wir brauchen Kultur- statt Reiseführer. Das Bundeskulturstiftungsprojekt relations hat sie

von SUSANNE ALTMANN

Von Normalität im Umgang mit osteuropäischer Kultur und Kunst, deren Gegenwart und Geschichte sind wir noch weit entfernt. Kürzlich erwähnte ich in einer Laudatio das Werk eines namhaften tschechischen Künstlers als Referenz zum Gezeigten, und ich untermalte meine These mit dem Zitat eines einflussreichen Prager Kollegen. Nichts Ungewöhnliches also. Wirklich? Im Anschluss an die Veranstaltung lobten mehrere Personen meine angeblich gute Kenntnis der osteuropäischen Kunstszene.

Nun ist Prag etwa 200 Kilometer von meinem Wohnort Dresden entfernt – eben so weit wie Berlin – und ist seither Akteur im europäischen Kulturkreis. Der Vorfall war symptomatisch. Noch immer, 17 Jahre nach dem Umbruch 1989, hafte den diversen Kunstszenen der vormals sozialistischen Länder etwas Exotisches an. Können Sprachbarrieren als Ausrede für Unkenntnis dienen? Immerhin gibt es kaum anspruchsvolle Publikationen zum Thema in Deutsch oder Englisch.

Die Initiatoren von relations, einem ehrgeizigen Initiativprojekt der Bundeskulturstiftung, haben dieses Defizit immerhin erkannt und legen jetzt mit zwei dickleibigen Bänden die Früchte ihrer osteuropäischen Pionierarbeit vor. Auf insgesamt fast 1.200 Seiten leisten „East Art Map. Contemporary Art and Eastern Europe“ sowie „Sprung in die Stadt. Kulturelle Positionen, politische Verhältnisse. Sieben Szenen aus Europa“ respektable Aufklärungsarbeit. Beide Bücher sind weit von einem enzyklopädischen Anspruch entfernt – das erste, weil es osteuropäische Kunstgeschichte als permanente Baustelle mit unzähligen beteiligten Gewerken versteht; das zweite, weil hier nur einige Schauplätze besichtigt werden. Nicht Moskau, Prag, Budapest oder Bukarest fanden Eingang in den Band, sondern – mit deutlicher Balkanlastigkeit: Zagreb, Ljubljana, Sofia, Pristina, Ljubljana, Chisinau und Warschau. Die spezielle Auswahl dokumentiert auch 13 künstlerische und kultursoziologische Projekte, die relations in den letzten Jahren vor Ort angeschoben hat. Jede der Städte wird mit einer Serie von Essays, Gesprächen, literarischen Texten und Abbildungen eingekreist. Es überwiegt zwar die Binnenperspektive der Protagonisten vor Ort; dennoch kommen auch zugereiste Westeuropäer zu Wort – meist in angenehm behutsamem Beobachtergestus.

Für den Einstieg in die dargebotene multinationale Szenerie empfiehlt es sich allerdings, den „Sprung in die Stadt“ vom Ende her zu vollführen. Das Schlusskapitel „Atlas“, verfasst vom Kulturanthropologen und Soziologen Klaus Ronneberg, klärt erst einmal über politische wie historische Grundlagen auf. Mit Ronnebergs geballtem Basiswissen geht es nun an die Lektüre der Regionalkapitel. Dabei schälen sich aus den Klimata der sieben Städte jeweils sieben Grundmotive heraus: Krieg, Staat, Kollektivität, Identität, Urbanität, sozialistische Moderne, Europa.

So sind die Reflexionen aus Sarajevo (Bosnien und Herzegowina) von den Folgen des Balkankriegs gefärbt. Mit Sejla Kameric oder Jasmila Žbanić werden Künstlerinnen vorgestellt, deren Schaffen immer wieder auf die Gräuel der jüngsten Vergangenheit zurückkommt. Daneben spielt der fesselnde Beitrag des Journalisten Emir Imamović verwirrende und brutale Nationalitätenkonflikte am populären Beispiel des Fußballs durch. Außerdem zeugt die Geschichte um das seltsame Bruce-Lee-Denkmal in Mostar von den Paradoxa der Erinnerungskultur und ihren physischen Manifestationen. Die Signale aus Pristina (Kosovo) wiederum vermelden Sehnsucht nach einem funktionierenden Staat. Und in Zagreb (Kroatien) wird ein neu erwachter Kollektivgeist von Kulturschaffenden beobachtet – als aktuelles Nachfolgemodell vormaliger kommunistischer Organisationsformen. Aus Chisinau, der Hauptstadt von Moldau, schwappen gar Galgenhumor und Selbstironie in die Publikation, mit dem dominanten Thema des binationalen Schwellendaseins des Landes zwischen Russland und Rumänien. Erhellend und bisweilen mit unfreiwilliger Komik garniert zeigen sich Berichte aus Sofia, wo das Schlüsselwort schlicht Großstadt heißt und wo die Initiative „Visual Seminar“ urbane Auswüchse des postkommunistischen „wilden Kapitals“ untersuchte.

Ähnliche Phänomene von hemmungsloser Deregulation beschreibt auch der Literat Edwin Bendyk aus Warschau in seinem wunderbaren Text. Dabei rückt in der polnischen Hauptstadt zunehmend die Frage nach dem Schicksal der sozialistischen Moderne in den Vordergrund – hier leistet die international umtriebige Foksal Gallery Foundation entschlossen Aufklärungsarbeit. Dennoch wirken Warschau und auch Ljubljana ein wenig wie Fremdkörper in der Reihe der anderen, eher konfliktreichen Städte. Unbelastet von regionalen Traumata scheinen beide Metropolen längst im europäischen Alltag angekommen zu sein. So beschäftigt sich die slowenische Künstlergruppe IRWIN schon seit 15 Jahren mit ihrer so genannten East Art Map. Jetzt liegt sie als Relations-Projekt in Buchform vor. Sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, erfasst aber immerhin Künstler und Kunstströmungen aus 18 früheren Ostblockländern. Vieles davon dürfte dem hiesigen Publikum unbekannt sein. Eine Art mentale Topografie im Anhang will zeigen, dass sich die nationalen Szenen hinter dem Eisernen Vorhang durchaus gegenseitig inspirierten und nicht nur am Inspirationstropf des Westens hingen.

Einen zwiespältigen Beigeschmack für deutsche LeserInnen hat allerdings der Beitrag zur ostdeutschen Szene, der ausgerechnet Staatskünstler wie Willi Sitte und Werner Tübke in trauter Eintracht mit Carlfriedrich Claus oder Lutz Dammbeck sieht. Doch den Begründern der „East Art Map“ ist es nicht um unumstößliche Kanonbildung zu tun, sondern darum, schwarze Löcher und weiße Flecken der Kunstgeschichte zu füllen. Mit ihrem Online-Aufruf „History is not given. Please help to construct it“ fordern sie Korrekturen geradezu ein. Ihr Buch ist daher, wie auch „Sprung in die Stadt“, als inspirierendes Brevier auf dem Weg in die Normalität zu verstehen.

Unter dem Titel „Bilder des Ostens“ stellt die „relations docking tour 01“ die Bücher in Lesungen und Diskussionen vor: vom 5. bis 8. Oktober im schauspielhannover, vom 19. bis 22. Oktober im Deutschen Schauspielhaus Hamburg und vom 1. bis 4. November im schauspielfrankfurt.

„Sprung in die Stadt. Kulturelle Positionen, politische Verhältnisse. Sieben Szenen aus Europa“. Hrsg. Katrin Klingan, Ines Kappert. Dumont Verlag, Köln 2006, 632 Seiten, 34 € (bei der Bundeszentrale für Politische Bildung 6 €); „East Art Map. Contemporary Art and Eastern Europe“. Hrsg. von IRWIN. Central Saint Martins College of Art & Design, Cambridge 2006, 528 Seiten, 39,80 €