Das neue Stabilisariat

Die FDP entdeckt in einer Gesellschaftsstudie die „Oberschicht“ und wundert sich

„Das Stabilisariat sorgt gerade in unsicheren Zeiten für Orientierung“

Eine Studie der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung sorgt zurzeit für heftige Diskussionen bei den Freidemokraten. Der Grund: Die Untersuchung belegt ein bereits zuvor kursierendes Gerücht, wonach sich in Deutschland eine Oberschicht etabliert habe.

Laut der Studie empfinden viele der Betroffenen ihr Leben als „gesellschaftlichen Aufstieg“. Ihr Bildungsgrad sei überwiegend hoch, „berufliche Mobilität“ und Gewinnermentalität seien stark ausgeprägt. Zwei Drittel der „neuen Oberschicht“ hätten „gemütliche Jobs in Vorstandsetagen und Aufsichtsräten“, den anderen sei ein Arbeitsplatz „eigentlich egal“, weil die Zinsen des Familienvermögens „locker für Generationen reichen“. Die Betroffenen erfreuten sich „größter finanzieller Sicherheit: sehr hohes Einkommen, reichlich Wohneigentum oder finanzielle Rücklagen, keine Schulden, stetiger familiärer Rückhalt“. Vom Staat fühlen sie sich angenehm in Ruhe gelassen, so die Studie.

In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau hatte der FDP-Politiker Otto Graf Lambsdorff schon vor einer Woche auf die „nicht geringe“ Zahl der „reichlich Reichen“ in Deutschland verwiesen, „manche nennen sie die neue Oberschicht“. Sein Parteivorsitzender, Guido Westerwelle, wies den Begriff „Oberschicht“ umgehend zurück. „Es gibt keine Schichten in Deutschland. Es gibt Menschen, die es leichter haben, die sorgenfrei sind. Das ist nicht neu. Das hat es schon immer gegeben. Aber ich wehre mich gegen die Einteilung der Gesellschaft.“ Viel treffender sei ohnehin die Bezeichnung „obere zehntausend“ für Gutsituierte, die sich darüber hinaus ihr Geld mit „harter Arbeit, neosozialer Einstellung und liberalem Handeln“ ehrlich verdient hätten.

Der Düsseldorfer Sozialwissenschaftler Friedrich Jürgens warf der FDP und Teilen der Union in der Mecklenburger Allgemeinen am Dienstag Flucht vor der Wirklichkeit vor, weil sie sich weigerten, die Existenz einer Oberschicht in Deutschland anzuerkennen und den Begriff zu benutzen. Dagegen warnte Sigurd Summsel vom Bonner Institut für soziologische Landesfragen vor einer „vereinfachten Darstellung unseres komplexen Gesellschaftssystems“. In der Soziologie spreche man schon seit längerem nicht mehr von einer Oberschicht, sondern dem „Stabilisariat“: „Das Stabilisariat sorgt gerade in unsicheren Zeiten für Orientierung“, sagte er dem Mannheimer Morgen. Besonders für Jugendliche sei es wichtig zu wissen, „dass man auch ohne Hauptschulabschluss, dafür aber mit viel Geld etwas im Leben erreichen kann“.

Der frühere Industrie-Präsident Hans-Olaf Henkel nannte die Diskussion „überzogen“ und kritisierte die „billige Polemik“: „Es kann doch nicht sein, dass immer wieder Schlagworte aus der Mottenkiste herausgeholt werden“, will er eigenen Angaben nach am kommenden Sonntag in der ARD-Talkshow „Christiansen“ zum Besten geben. Nach der „unerträglichen Neid-Debatte“ werde nun ohne Not eine Oberschichten-Debatte entfacht. „Dann kommt wieder irgendwer und rechnet vor, wie viel die Aldi-Brüder verdienen. Dabei wissen wir alle, dass viele Unternehmer mit bis zu einer Milliarde weniger zurechtkommen müssen.“

Inzwischen hat sich, nicht unerwartet, auch der grüne Landtagsabgeordnete Boris Palmer aus Baden-Württemberg zu Wort gemeldet. Er werde in den nächsten Tagen einen ähnlich cleveren Vorschlag wie seine „Bürgergeld-Flatrate“ (taz vom 8. 9. 2006) zu Papier bringen. Dabei werde es voraussichtlich um die Aufhebung der Erbschaftsteuer gehen – ein wichtiger Reformschritt, der „logischerweise“ nicht nur der Oberschicht zugute käme.

CAROLA RÖNNEBURG