Armut ohne Gewähr

Nicht nur für Politiker ist die Unterschicht ein Problem, sondern auch für die Statistiker, die sie messen wollen

Vier Prozent aller Westdeutschen und 25 Prozent der Ostdeutschen gehören zum „abgehängten Prekariat“. So hat es das Institut TNS Infratest im Auftrag der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung für ganz Deutschland ermittelt. Wie aber sieht die Lage in Berlin aus? Wie viel Berliner können diesem Schichtenmodell zufolge zur Unterschicht gezählt werden?

Die jüngsten Zahlen, die das Statistische Landesamt anbietet, sind immerhin vier Jahre alt und stammen aus dem Mikrozensus 2002. Präsentiert wurden sie ein Jahr später unter dem Titel „Armut und soziale Ungleichheit in Berlin“ vom damaligen Direktor des Amtes, Eckart Elsner. Ihm zufolge ist der Anteil der Armen an der Bevölkerung von 13,5 Prozent 1996 auf 15,6 Prozent 2002 gestiegen. Gleichzeitig konnten die Statistiker nachweisen, dass sich die Armen in bestimmten Quartieren zunehmend räumlich konzentrieren. Arm ist in dieser Definition, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung hat. Bundesweit stehen laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 13,5 Prozent der Gesellschaft an der Schwelle zur Armut. Berlin ist also nicht unbedingt ein Ausreißer nach unten.

Das Problem der Armutsstatistik ist allerdings, dass sie nur die materielle Armut, nicht aber die Armut an Perspektiven misst. Beide sind in der Stichprobe der Friedrich-Ebert-Studie aber kennzeichnend für das „abgehängte Prekariat“. Eine Statistik, die alle Kriterien erfasse, meint der Geschäftsführer des Instituts für angewandte Demographie (IFAD), Harald Michel, könne nur eine Volkszählung liefern.

Michels Mitarbeiter selbst haben sich bis vor kurzem mit einer Ersatzlösung beholfen, indem sie die Sozialhilfedaten der Bezirke auswerteten. „Da konnten wir genau sagen, wie viele der Sozialhilfeempfänger in welchen Bezirken welchen Schulabschluss haben.“ Das ist jetzt nicht mehr möglich. „Seit der Einführung von Hartz IV gehen alle Daten zur Bundesagentur nach Nürnberg und werden dort bereinigt.“ Hartz IV wird von manchen Politikern also nicht nur als Ursache der neuen Armut ausgemacht. Hartz IV erschwert auch unser Wissen darüber.

Ob man mit Stichprobenanalysen, wie sie bei TNS Infratest durchgeführt wurden, mehr erfährt, bezweifelt Michel. Noch weniger aussagekräftig sei der Sozialstrukturatlas, bei dem nur die Ausländerquote mit der Zahl der Einwohner in den Bezirken abgeglichen würde. Gleichwohl begrüßt Michel die neue Diskussion, weil nun zur Sprache komme, worüber lange nicht geredet worden sei. UWE RADA

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