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: Erlösung für den Alltag

Weder Buch noch Regie wissen wirklich, was sie wollen oder tun. Abel Ferraras „Mary“ ist ein heiliges Monster von einem Film

Juliette Binoche spielt die Schauspielerin Marie Palesi, die ihrerseits in einem Bibelfilm Maria Magdalena spielt. Abel Ferraras Film „Mary“ beginnt mit einer Szene aus diesem Film im Film namens „Dies ist mein Blut“, in dem der Regisseur Tony Childress (Matthew Modine) die Rolle Jesu selbst übernommen hat. Dann erfolgt ein sanfter Schnitt zum Ende der Dreharbeiten, und wir sehen, dass Marie, die Schauspielerin, sich weigert, nach New York zurückzukehren. Es erfolgt ein weniger sanfter Schnitt und eine Einblendung sagt: „Ein Jahr später“. Tony Childress ist zurück in New York; „Dies ist mein Blut“ erlebt eine erste Pressevorführung. Marie aber, das sehen wir auch, hat das Schauspielen aufgegeben, ist nach Jerusalem gegangen, geht durch Gassen und sitzt auf Treppen und ist eins mit sich und der Welt.

Dies ist das zentrale Thema von Ferraras „Mary“. Er zeigt suchende Menschen, die zu dem finden, was sie sind, oder auf ihrer Suche in die Irre geraten. Der Regisseur von „Dies ist mein Blut“ und sein weiblicher Star erweisen sich als die beiden extremen Pole dieser Suche. Marie findet Glück und Glauben, Tony sehen wir zuletzt schwankend zwischen Größenwahn und geistiger Zerrüttung: Er wird zum Vorführer seines eigenen Films im nach einer Bombendrohung geleerten Kino. Er sperrt sich ein im Vorführraum, Ferrara blendet die Speichen der sich drehenden Filmspule über sein Gesicht, verdunkelt den Raum und verweigert dem Mann, der Jesus spielt, persönliches Heil und beruflichen Erfolg. In merkwürdiger Weise kreuzt Ferrara hier ein Alter Ego seiner selbst mit dem Jesus-Film-Regisseur Mel Gibson, dem Mann, der den Zweifel nicht kennt.

Ferrara dagegen, dessen religiöse Obsessionen spätestens seit „Bad Lieutenant“ kein Geheimnis mehr sind, kennt den Zweifel sehr wohl. Zur eigentlichen Zentralfigur macht er darum auch weder die gläubige Marie noch den heillosen Anthony, sondern den erfolgreichen Fernseh-Talkmaster Theodore Younger (Forrest Whitaker), einen Agnostiker, der in seiner Sendung Theologen zum Thema „Der wahre Jesus“ befragt und privat seine hoch schwangere Frau (Heather Graham) betrügt. Er wird, als Frau und Sohn zu sterben drohen, in den Abgrund des Zweifels gerissen, aus dem ihn, so suggeriert der Film, Marie erlöst.

Mit einiger Konsequenz der filmischen Mittel verfolgt Ferrara das Gegen- und Ineinander von Glauben und Zweifel im Verhältnis seiner irrenden, suchenden und findenden Figurendreifaltigkeit. Die Erlösung Theodores ist als Parallelmontage mit Marie inszeniert, die im Gegenschnitt zu seinem verzweifelten Gebet in Jerusalem Kerzen entzündet: Darauf schlägt Theodores im Koma liegende Ehefrau die Augen auf. In einer der eindrucksvollsten Szenen des durchweg grandios fotografierten Films (Kamera: Stefano Fanivene) werden New York und Jerusalem, Theodore und Marie übereinander geblendet. Dies ist lesbar als Schlüsselbild eines Werks, das selbst auf der Suche ist nach der Möglichkeit der Erlösung der profanen Alltagswelt durchs Spirituelle.

Das ist aber, andererseits, nur eine mögliche Lesart. Denn in Wahrheit ist „Mary“ ein zugleich faszinierender und irritierender Film, der sich leicht delirant auf der Grenze zwischen intentional offener Bedeutungsstruktur und unstrukturiertem Wirrwarr der Zeichen und Wunder bewegt. Es ist kaum zu entscheiden, ob Buch und Regie hier wirklich wissen, was sie wollen und tun. Zum Figurendrama werden ohne Scheu vor Überfrachtung noch fraglos sehr ernst gemeinte theologische Diskussionen gefügt, die sich mit der historischen Rolle und dem apokryphen Evangelium der Maria Magdalena befassen. Es kommt die Thematisierung von Protesten der christlichen Rechten gegen den Film hinzu, am Ende geht eine Bombe in Jerusalem hoch.

Der Film war im letzten Jahr beim Festival in Venedig zu sehen und ließ sein Publikum eher ratlos zurück. Die Jury verlieh ihm den Großen Preis. Ein auf wenige Kinos beschränkter Start des vorwiegend mit italienischen Geldern produzierten Films ist in den USA fürs nächste Jahr geplant. In Deutschland ist mit einer Kinoauswertung wohl nicht zu rechnen und eine DVD-Edition ist ebenso wenig abzusehen. DVD-Ausgaben gibt es bisher nur in den Koproduktionsländern Italien und Frankreich. „Mary“ ist kein einfacher Film, aber ein monstre sacré und Faszinosum für mindestens diejenigen, die an Gott oder Abel Ferrara glauben oder verzweifeln.

EKKEHARD KNÖRER

Die französische Luxus-DVD-Ausgabe gibt es für ca. 20 Euro, zum Beispiel bei www.amazon.fr; die italienische Ausgabe für rund 15 Euro (jeweils plus Versandkosten) etwa bei www.dvd.it