Leugnen und lügen

Sabine Gisger hat für ihren Dokumentarfilm „Gambit“ recherchiert, wie es zur Giftkatastrophe in Seveso kam

Am 10. Juli 1976 ereignet sich im lombardischen Seveso ein furchtbarer Unfall. Als in der Icmesa-Chemiefabrik ein Reaktor mit giftigem Trichlorphenol überhitzt und explodiert, entweichen mehrere Kilo Dioxin in die Atmosphäre. Auf ein Sicherheitssystem, das dies hätte verhindern können, war aus Kostengründen verzichtet worden. Als Folge des Unglücks wird ein Gebiet von 1.800 Hektar verseucht, knapp 200 Menschen – vor allem Kinder – erkranken an schwerer Chlorakne, mehr als 70.000 Tiere verenden qualvoll.

In ihrer Dokumentation „Gambit“ versucht die Schweizer Filmemacherin Sabine Gisiger den Hergang der Ereignisse so genau wie möglich zu rekonstruieren. Zugleich stellt sie ein Psychogramm des damals verurteilten Managers Jörg Sambeth her, der seine Version der Geschichte in dem Buch „Zwischenfall in Seveso“ festgehalten hat.

Sambeth, so suggeriert schon der Filmtitel, musste als Bauernopfer des Icmesa-Mutterkonzerns Hoffmann-La Roche ins Gefängnis, um größeren Schaden vom Unternehmen abzuwenden. Zahlreiche Interviews dokumentieren die verheerenden privaten Auswirkungen des Unglücks, in deren Folge Sambeths Frau an Krebs erkrankte und starb, während er seine Haftstrafe absaß.

Die Recherchen zum Unfallhergang offenbaren, in welch infamer Weise die Führungsriege des Pharmariesen zuerst die Katastrophe vertuschte und später Informationen nur häppchenweise an die Öffentlichkeit weiterleitete. Konzernchef Adolf Jann behauptete am Ende noch, die von Chlorakne befallenen Kinder „weinten vor allem, weil ihnen die Blutentnahme bei der Kontrolle wehtat“.

Wer die Bilder von der Unglücksstelle gesehen hat, die einem düsteren Science-Fiction-Epos entstammen könnten, weiß, wie zynisch diese Aussage klingt: Man erblickt Menschen, die sich in weißen Schutzanzügen durch ausgestorbene Landstriche bewegen, sieht die vom Ausschlag gezeichneten Gesichter der verängstigten Bewohner. Und man erkennt die Diskrepanz zwischen dem, was der Unfall für Hoffmann-La Roche war – ein abstrakter Imageschaden – und dem, was er für die Einwohner Sevesos bedeutete: die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage.

„Gambit“ ist ein sehenswerter Film, der nie emotionalisierend anprangert. Allerdings – und das ist sein großes Manko – gelingt es ihm nicht wirklich, der Person Jörg Sambeth nahe zu kommen: Warum hat der Manager keine Konsequenzen gezogen, als seine Sanierungsmaßnahmen für die Icmesa-Fabrik untergraben wurden? Warum ist er nicht früher an die Öffentlichkeit gegangen?

Selbst wenn es auf diese Fragen kaum klare Antworten gibt, hätte der Film doch versuchen müssen, die gesellschaftlichen und psychologischen Strukturen zu zeigen, die einen reflektierten Menschen wie Jörg Sambeth daran hinderten, sich einer Instrumentalisierung seiner Person vehementer zu widersetzen. Denn darum geht es in „Gambit“ ja gerade: um die Rolle des Einzelnen in einer kollektiven Katastrophe.

ANDREAS RESCH