„Es dauert lange, bis ein Imperium stirbt“

Der Niedergang der imperialen Macht USA ist unaufhaltsam – es kommt allerdings darauf an, wie die US-Politik ihn managt. Derzeit macht sie alles falsch und überdehnt die imperiale Macht, so der Historiker Paul Kennedy

taz: Herr Kennedy, 1988 sagten Sie in Ihrem Buch „Aufstieg und Fall der großen Mächte“ den Niedergang der USA voraus. Damit lagen Sie spektakulär daneben: Kurz danach setzten die USA zu einem wirtschaftlichen Höhenflug an und wurden militärisch die einzige Supermacht.

Paul Kennedy: Ich bin stets darauf vorbereitet, falsch zu liegen. Aber zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass es in den sieben der acht Kapitel um die vergangenen 500 Jahre ging. Nur das letzte war spekulativ, und an seinen Anfang schrieb ich ein arabisches Sprichwort: Wer die Zukunft richtig voraussagt, ist nicht weise, sondern hat Glück. Außerdem habe ich die Trends bis ins Jahr 2010 prognostiziert.

Sie meinen, Ihre Prognosen könnten bis 2010 noch eintreffen?

Ich versuchte damals vorherzusagen, in welche Richtung sich die fünf Machtzentren Sowjetunion, Amerika, Europa, Japan und China entwickeln würden. Würde ich mich selbst benoten, würde ich sagen, der Teil über den Niedergang der Sowjetunion war ziemlich gut. Auch der Part über den Aufstieg Chinas war richtig. Die Anzeichen für die Stagnation Japans in den Neunzigerjahren habe ich übersehen. Auch Europa habe ich gut erwischt: Es ist wohlhabend und nett, aber es kann außenpolitisch nicht wie ein Akteur handeln.

Bleiben noch die USA.

Da bin ich eigentlich ziemlich reuelos. Es dauert lange, bis ein Imperium stirbt. Schon im 18. Jahrhundert sprach man über den Niedergang des Osmanischen Reiches, und es bestand bis zum Ersten Weltkrieg. Meine düstere Prognose für die USA wurde in den Neunzigerjahren vor allem aus zwei Gründen auf den Kopf gestellt: weil die Sowjetunion kollabierte und die USA ihre Militärausgaben reduzieren konnten und weil es einen beeindruckenden ökonomischen Sprung gab. Die Neunzigerjahre hindurch wuchs die US-Wirtschaft um durchschnittlich vier Prozent pro Jahr. Aber meine größere These lautete, dass die USA an imperialer Überdehnung leiden – und davon bin heute nicht nur ich überzeugt. Kürzlich sagte der Generalstabschef der US-Armee, dass unsere Kräfte überstrapaziert sind.

Tatsächlich wird Ihr Buch immer häufiger zitiert.

Wenn man meine Phrase von der „imperialen Überdehnung“ in eine Suchmaschine eingibt, erhält man zehntausende Treffer aus den vergangenen drei Jahren. Aber das macht mich nicht unbedingt glücklich. Wir bräuchten ein Amerika, das seinen relativen Abstieg intelligent managt. Doch es treibt die US-Neokonservativen auf die Palme, über irgendeine Form von Niedergang nachzudenken – selbst wenn er nur relativ ist. Chinas und Indiens Aufstieg sind nicht zu leugnen.

Sind die USA überhaupt ein Imperium?

Ja, solange man den Begriff nicht im streng römisch-juristischen Sinn gebraucht. Wir haben keine formellen Kolonien mit einem Generalgouverneur und einer Garnison. Aber wenn man den Begriff flexibler verwendet – Land A hat unverhältnismäßig großen Einfluss auf Land B; Land B wird von Land A geschützt, und die Hauptexporte von Land B gehen in Land A –, dann sind die USA ein Imperium.

Das reicht schon?

Derzeit stehen fast 385.000 amerikanische Soldaten in 31 Nationen auf dem ganzen Globus. Das ist deutlich mehr, als Philipp II. von Spanien je hatte. Und wir sollen kein Imperium sein? Es gibt diesen Spruch: Was aussieht wie eine Ente, geht wie eine Ente und quakt wie eine Ente, ist wahrscheinlich eine Ente. Was wie ein Imperium aussieht, handelt und riecht, ist wohl eines.

Handeln die USA wirklich imperial? Anders als Kolonialreiche wollen die USA keine Länder auf lange Sicht erobern.

Jeder Soldat, der in die US-Armee eintritt, wird ziemlich bald ins Ausland geschickt, genau wie in der britischen Armee in viktorianischer Zeit. Es ist zwar eine nette Absichtserklärung, dass wir nirgendwo bleiben wollen, aber ein Historiker im Jahr 2050 wird sehen, dass wir seit Jahrzehnten eine Militärbasis außerhalb von Riad in Saudi-Arabien halten. Für einen Imperienhistoriker sieht das aus wie eine Ente.

Halten sich Amerikas Politiker für Imperialisten?

Einige Neokonservative sagen, wir seien ein Reich und sollten stolz darauf sein, wie mein ehemaliger Student Max Boot – Gott stehe mir bei. Eine andere Gruppe von Konservativen wehrt sich gegen die Bezeichnung Imperium, weil sie sich in einem moralischen Kampf wähnen und abziehen wollen, sobald im Nahen Osten die Demokratie hergestellt ist. Und dann gibt es noch Realisten wie Henry Kissinger, die es für völlig verblödet halten, in 7.000 Kilometer Entfernung die Demokratie einführen zu wollen.

Für Sie gibt es keinen Grund, stolz auf das US-Imperium zu sein?

Nein. Die USA sind unbeliebter als je zuvor. Das kann nicht gesund sein. Die Ansprache von Venezuelas Präsident Hugo Chávez vor den UN hat mich überrascht. Wir wussten, dass er arrogant, beleidigend und dumm sein würde. Aber als er das Podium verließ, erntete er stürmischen Applaus – und zwar von professionellen Diplomaten und Politikern. Hätten Roosevelt oder Kennedy diese Szene gesehen, sie hätten ihren Augen nicht getraut.

Ist ein Imperium automatisch unbeliebt? Oder sind die USA wegen Bush so unpopulär?

Wenn man der einzige 250-Kilo-Gorilla im Käfig ist, stößt man immer auf Neid und Eifersucht. Aber die USA waren schon 1945 mächtig. Nur war die US-Politik damals viel cleverer. Truman und Eisenhower machten sich ernsthaft Sorgen wegen unserer Macht. Sie verstanden: Wir mögen zwar sagen, dass wir unsere Macht nie für böse Zwecke einsetzen werden. Aber es ist unrealistisch anzunehmen, dass man uns glauben wird.

Könnte ein anderer US-Präsident also anders regieren?

Ja, Personen spielen eine Rolle. Mir wird oft vorgeworfen, ein Determinist zu sein, weil ich langfristige Verschiebungen, etwa den relativen Niedergang Spaniens über zwei Jahrhunderte oder den Aufstieg Englands, betrachte. Niemand wird den Aufstieg Indiens stoppen können, nicht einmal eine dumme indische Regierung. Aber es ist unglaublich wichtig, wie klug man das managt. Deutschland war schon unter Kaiser Wilhelm eine aufstrebende Wirtschaftsmacht, doch er steuerte Deutschland in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Eine andere US-Regierung könnte einen Unterschied machen, schon weil dieses Land dem Präsidenten so viel Macht gibt.

Aber er könnte den Trend nach unten nicht umkehren?

Nein. Expräsident Clinton hat in Yale mal eine Rede gehalten, bei der ich vor Überraschung fast aus dem Sitz fiel. Er sagte, wir sollten uns aktiv auf eine Welt vorbereiten, in der die USA nicht mehr die Nummer eins sind. Kein US-Politiker würde so etwas je sagen.

So oder so bleibt Amerika nur der Niedergang?

Die Betonung liegt auf „relativem Niedergang“. Das muss keine Katastrophe wie am Ende des Römischen Reichs bedeuten. Das schwedische Reich erlebte einen relativen Abstieg nach Gustav Adolf. Doch der Lebensstandard stieg. Relativer Niedergang heißt einfach, dass andere im Verhältnis produktiver und einflussreicher werden. Wer das managt, muss sich keine schrecklichen Sorgen machen. Das Schwierige ist aber gerade, sich damit abzufinden. Deswegen war Clintons Aussage so erstaunlich.

INTERVIEW: SEBASTIAN HEINZEL