berlin, pleite etc.
: Zynismus der Kurzsichtigen

Klagen hilft nicht, jammern noch weniger. Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist die Pleitesituation von Berlin für Jahrzehnte gesichert. Das worst case scenario ist bekannt, und für Kürzungen gilt: zuerst Kultur. Der Bund mag es nun als einen Sieg sehen, wenn er der hoch verschuldeten Stadt keine Finanznothilfe leisten muss. Das Urteil damit zu begründen, dass Berlin sein Einsparpotenzial nicht ausgeschöpft hat und zudem der landeseigene Wohnungsbestand verkauft werden könne, ist allerdings ein Zynismus der Kurzsichtigen. Es mag ja sein, dass man in Karlsruhe oder Bielefeld die Entwicklung Berlins seit dem Mauerfall nie richtig wichtig genommen hat. Wer platt weitere Privatisierung empfiehlt, bezeugt seine völlige Unkenntnis der Verhältnisse. In Berlin stehen neben erschwinglichen Mieten auch zig Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst, der Fortbestand einer Universität, die bereits angedachten, unentgeltlichen Kindertagesstätten und die Schließung von Schwimmbädern und Sozial- wie Kultureinrichtungen – bis hin zu Opernhäusern oder gleich mehreren Theatern – auf dem Spiel.

Tatsächlich ist die Ansage, doch bitte mehr zu sparen, nur der Anfang einer Politik der Sachzwänge, die den seit der Wiedervereinigung anhaltenden Aufbruchsgeist Berlins für lange Zeit lähmen wird. Dabei sollte man den symbolischen Stellenwert nicht unterschätzen: Wer von der Berliner Republik spricht, muss ihre Eigenheiten ernst nehmen. Denn es war ja stets der Charakter des Übergangs, die ungeklärten Besitzverhältnisse und überhaupt Freiräume, die Berlin auch international attraktiv und zu einem neuen Zentrum gemacht haben. Das Lob des Provisorium und die Vorstellung vom kreativen Labor sind wieder und wieder bemüht worden, wenn es um die positive Ausstrahlung der weltoffenen Hauptstadt ging. Dieses Image hat auch geholfen, das Bild von Deutschland als „Land der Ideen“ ideologisch zu unterfüttern. Hat der Mohr nun seine Schuldigkeit getan, für das ökonomische Fortkommen in Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg oder München?

Nein, keine Klagen. Aber doch Fragen. Wird Berlin jetzt auch als Ganzes auf politischer und gesellschaftlicher Ebene zur wild wuchernden Ruine, wie es in den Neunzigerjahren für so weite Teile des Ostens gegolten hat? Gibt es womöglich eine zweite Chance für das Scheitern, in dem sich Kulturschaffende angesichts der desolaten Lage bereits damals eingerichtet hatten? Oder ist ohne die Zuwendungen des Bundes noch weniger Land in Sicht? Dann könnte zuletzt auch das „arm, aber sexy“, mit dem Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit gern mal kokettiert hat, völlig unglamourös ein Baustein mehr in der aktuellen Armutsdebatte werden. Denn Armsein stößt ab, vor allem Investoren.

HARALD FRICKE